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Archiv-Artikel

Schroffe Liebe

ERSATZFAMILIE 1 „La Pivellina“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel zeigt eine starke Frau

Mutterseelenallein findet sie ein kleines Mädchen in einem rosaroten Overall auf einer Schaukel sitzend

VON ANKE LEWEKE

Gena Rowlands’ Gloria hat endlich eine ebenso wunderbare Nachfolgerin gefunden. Eine, die ihr an Resolutheit und Toughness das Wasser reichen kann. Man mag sich fragen, was John Cassavettes’ Gangsterfilm um eine Ex-Mafiabraut mit einem Film zu tun hat, der mit Laiendarstellern aus dem italienischen Schaustellermilieu improvisiert wurde. Doch die menschliche Größe dieser beiden Heldinnen schert sich nicht weiter um das Genre. Ihre bloße Präsenz zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Eine überdimensionale Sonnenbrille und die blonde Mähne machen jeden Gang von Gloria zum Auftritt, während die feuerrothaarige Patti in „La Pivelina“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel ein wenig Farbe in den römischen Winter bringt.

Beide Frauen haben eine Herzensgüte, die nicht sofort erkennbar ist. Bittet man Gloria um einen Gefallen, bläst sie dem Gegenüber mit bebenden Nasenflügeln Rauch ins Gesicht. Patti wiederum gewinnt unsere Zuneigung durch eine Ohrfeige. Nur wer seinen entlaufenen Hund wirklich liebt, kann ihm, wenn er bellend wieder vor der Tür steht, derart eine verpassen. Aber das Tier scheint die schroffe Liebe durchaus gewöhnt. Genau wie ihre Seelenverwandte aus Queens sieht sich Patti aus Rom plötzlich mit einem Kind konfrontiert. Buchstäblich mutterseelenallein findet sie ein kleines Mädchen in einem rosaroten Overall auf einer Schaukel sitzend. In der Hosentasche steckt ein Zettel mit der Bitte der Mutter, sich für eine Weile um das Kind zu kümmern. Der Name der Kleinen? Aia oder Asia, je nachdem, wie eine Zweijährige das halt so ausspricht.

In „Gloria“ wie auch in „La Pivellina“ geht es um Menschen, die sich zu einer Art Familie zusammentun und sie gegebenenfalls mit Haut und Haaren verteidigen. Gloria greift zur Waffe. Auch Patti setzt ihre Existenz aufs Spiel. Sollte die Kleine bei ihr im Wohnwagen gefunden werden, könnte sie als Entführerin verdächtigt werden. Ohnehin lebt sie mit Mann und Freunden in einer Gemeinschaft jenseits der Gemeinschaft: einem Wanderzirkus am Rande von Rom, in dem das Leben immer neu improvisiert werden muss. Ein Kind mehr? Was soll’s. Wichtig ist, dass es ihm gut geht. Also tollt das schwarz gelockte kleine Wesen durch große Wasserpfützen, lässt sich von Onkel Walter in die Welt der Hundedressur einweisen und sinkt zu Pattis mit rauchiger Stimme gesungenem Lied in den Schlaf.

Mehrere Monate lebten die Filmemacher Tizza Covi und Rainer Frimmel gemeinsam mit den Schaustellern, die zu den Helden ihres Films wurden. In „La Pivellina“ stellen sie ihre Welt in einem Spielfilm dar. Die Kamera folgt ihnen bei ihren Wegen und Gängen durch die Vororte Roms, in die Pizzeria oder in den nächsten Supermarkt, zum Windelkauf. Dabei ist ihre Position leicht erhöht – eine Überhöhung im wahrsten Sinne. Denn hier geht es nicht um abgefilmte Wirklichkeit, nicht um die Behauptung, mitten im Leben zu stehen. Als Zuschauer bleibt man Zeuge einer Vorstellung.

Ganz nebenbei entwirft „La Pivellina“ eine schöne Utopie. Worte wie Solidarität, Verantwortung, Umverteilung, Großzügigkeit werden hier nicht beschworen, sie werden gelebt. In kleinen Gesten. Etwa wenn Patti für die Kleine ein viel zu teueres Strickkleid kauft. Oder wenn der vierzehnjährige Tairo das hungrige Kind in eine Pizzeria ausführt.

So wird „La Pivellina“ zu einem Film über Kindheit oder darüber, was Kindheit sein kann. Über einen Augenblick der Unbeschwertheit und Geborgenheit. Es ist ein Film, man muss es so sagen, der ans Herz geht.

■ „La Pivellina“. Regie: Tizza Covi, Rainer Frimmel. Mit Patrizia Gerardi, Walter Saabel u. a. Österreich/ Italien 2009, 100 Min.