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Archiv-Artikel

Blick in die Zukunft

FORENSIK TV-Kriminalserien bedienen sich oft der erstaunlichsten Ermittlungstechnik. Eine Reportage geht dem Fiktionsgehalt der Serien auf den Grund und zeigt die neusten realen Entwicklungen (21.45 Uhr, Arte)

VON HARALD KELLER

Es war eine große Geschichte. Überregionale Medien, von der Boulevardgazette bis zum Intelligenzblatt, berichteten: 1987 wurde in Osnabrück ein neunjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet. Der Täter blieb unentdeckt. Die Polizei ließ nicht ab, nahm sich der Sache immer wieder an. 2013 gelang der Durchbruch. Mit inzwischen verfeinerten Methoden konnte eine winzige DNA-Spur ausgewertet werden. Und die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ verhalf zu einem Hinweis auf den potenziellen Täter. Dessen DNA stimmte mit der gefundenen Probe überein. Ein Triumph polizeilicher Beharrlichkeit und vor allem der modernen Kriminaltechnik. Was aber viele Berichterstatter verschwiegen: Die Ermittlungsergebnisse reichten nicht, um den Täter zu verurteilen. Ein Geständnis war nötig. Ohne seine Kooperation wäre er noch heute ein freier Mann.

Mit dem „Fall Christina“ eröffnet der Filmautor Tilman Jens seine Reportage „Gangster und Genetik“ über die Fortschritte und Möglichkeiten sowie die Beschränkungen der forensischen, also gerichtsbezogenen Kriminalistik. Ein naturwissenschaftliches und zugleich ein Medienthema. Der deutsche „Tatort“, die französische Krimiserie „Engrenages“ und natürlich die US-amerikanischen „CSI“-Serien werden auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht. „CSI“ liefert demnach Science Fiction im Wortsinne – die Autoren greifen oftmals der Entwicklung vor. Beispiel Gesichtserkennung: In „CSI“ genügt ein körniges Bild einer Überwachungskamera, um einen Abgleich mit der Computerdatenbank anstellen zu können – in der Wirklichkeit, wie Tilman Jens beim FBI in Clarksburg erfuhr, nicht machbar. Die nötige Technik aber, das „Next Generation Identification“-System (NGI), ist in Arbeit. Damit eröffnet sich die Möglichkeit der totalen Erfassung, wie sie in der von Jens nicht erwähnten US-Serie „Person of Interest“ bereits besteht.

Mit dem TV-Krimi und den medizinisch-chemischen Ermittlungsverfahren verhält es sich ähnlich wie mit utopischen Serien und der technischen Entwicklung. Schon 1966 gab es in der deutschen Science-Fiction-Serie „Raumpatrouille Orion“ die Computerarmbanduhr, bei „Star Trek“ Handy und später die Computerbrille. Ein Menschheitsmotto: Was denkbar ist, wird irgendwann ertüftelt. In der Kriminalistik etwa die Virtopsie, die radiologische Autopsie, die die chirurgische Leichenöffnung ersetzt. Bei „CSI“ war das Verfahren zu sehen, auch in der „Tatort“-Folge „Der Fluch der Mumie“. In Zürich wird die Virtopsie im Zuge polizeilicher Ermittlungen seit 2010 angewandt und stetig verbessert. Der Vorteil: Der Körper bleibt unbeschädigt, das Ergebnis kann am Computer dokumentiert und für das Gericht nachvollziehbar visualisiert werden. Auch beim Nachweis von Behandlungsfehlern ist diese Technik von Nutzen.

In ähnlicher Weise zeigt Tilman Jens weitere aktuelle und künftig zu erwartende technische Möglichkeiten der Verbrechensbekämpfung auf, auch deren fragwürdige Aspekte und rechtlichen Grenzen: Im Emsland wurde ein Vergewaltiger auf dem Umweg über die DNA-Auswertung von Blutsverwandten ausfindig gemacht – ein unzulässiges Verfahren, wie der Bundesgerichtshof befand.

„Gangster und Genetik“ ist angesichts der Beliebtheit des Krimigenres, die vom Autor bewusst genutzt wird, von Interesse. Die Reportage liefert Wissen, um die mitunter hanebüchen zusammenfabulierten Fiktionen informierter und damit kritischer wahrzunehmen.