: Die Zeiten des Filmvorführers
NETZ Ein Teppichverleger geht online – und erfindet kino.to, eine riesige Filmplattform. Am Ende stürmen schwer bewaffnete Polizisten sein Schlafzimmer. Und dazwischen? Dazwischen liegen hollywoodreife Jahre und die Frage, was man im Internet darf
■ Die Seite: kino.to war vom Frühjahr 2008 bis zum 8. Juni 2011 online. Zuletzt bot die Seite Links zu 92 aktuellen Kinofilmen, 22.839 anderen Spielfilmen und 7.556 Dokumentationen. 2.618 Serien konnten als Stream abgerufen werden. Beim Streamen muss der Nutzer den Film nicht auf seinen Rechner herunterladen, sondern kann ihn direkt auf der aufgerufenen Seite abspielen.
■ Die Urteile: Am 8. Juni 2011 wurden die Betreiber der Seite festgenommen. Im Dezember begannen in Leipzig die Prozesse. Der Seitendesigner wurde zu zweieinhalb Jahren verurteilt, ein Administrator bekam drei Jahre, der Serverbeschaffer drei Jahre und fünf Monate, der Programmierer drei Jahre und neun Monate – alle ohne Bewährung. Derzeit steht der Chef Dirk B. vor dem Landgericht. Am nächsten Dienstag geht der Prozess dort weiter.
■ Die Nutzer: Ob sich strafbar macht, wer Filme auf kino.to oder dessen Nachfolgeportalen ansieht, ist umstritten. Mehr dazu auf: taz.de/kinostreaming
VON JOHANNES GERNERT (TEXT) UND DIETER JÜDT (ILLUSTRATION)
Dann rauscht noch einmal das ganze Geld an ihm vorbei, sein Geld. Der Staatsanwalt nuschelt es in den Gerichtssaal hinein. Zügig wie ein Bankkassierer, der Scheine durch die Finger knistern lässt, die Ziffern, die Buchstaben fließen ineinander. Tausend, zehntausend, hunderttausend. Der Daumen des Staatsanwalts gleitet an den Summen entlang, schiebt sich am Papier der Anklageschrift herunter. Er hält kurz inne, bevor er die Zahl wie ein paar Cent Trinkgeld in den holzvertäfelten Raum wirft: Sechs Millionen. Sechshundertfünftausend. Vierhundertneunundsechzig Euro. Und zweiundneunzig Cent.
Die gesamten Werbeeinnahmen von kino.to, dem erfolgreichsten deutschen Filmportal. Das es nicht mehr geben darf.
Dem Staatsanwalt gegenüber sitzt Dirk B., gerader Rücken, randlose Brille, Hände im Schoß. Und für einen Moment ist er nicht der Kämpfer für die Freiheit im Internet, zu dem ihn Onlineaktivisten verklären, er ist auch nicht der Wirtschaftsverbrecher, zu dem der Staatsanwalt ihn erklären will. Er ist nur ein kleiner Mann mit grauen Haaren, der einmal reich war.
Und dann wieder nicht.
Dirk B., 39 Jahre alt, elf Monate Untersuchungshaft, er fixiert den Staatsanwalt so sehr, als könnte er ihn wegstarren. Draußen scheint an diesem warmen Maimorgen die Sonne. Drinnen im Saal 115 des Leipziger Landgerichts rattert der Staatsanwalt seine Zahlenreihen herunter. Er ist gerade bei den Ausgaben, dem Geld, das B. den kino.to-Mitarbeitern von den 6,6 Millionen auszahlte. Und wenn das hier ein Film wäre, würde das Rattern leiser werden, die Kamera würde sich Dirk B.s randloser Brille nähern, in den Gläsern der Brille würde der Gerichtssaal verschwimmen, da wäre Musik, immer lauter. Man sähe Autoscheinwerfer in der Nacht: Sein schwarzer Mercedes SL AMG röhrt über den Asphalt Mallorcas, bis er an seinem Haus mit dem Pool ankommt.
Das Schlagen einer Autotür. Dirk B. geht nach drinnen, lässt sich in seinen Lederchefsessel fallen, klemmt sich sein Headset auf die Ohren und schaut auf einen der beiden Monitore. In seinen Augen spiegelt sich das Logo von Skype, während er mit seinen Leuten in Hamburg, Leipzig und Zwickau spricht, mit dem Programmierer, den Administratoren. Sie kümmern sich darum, dass die Seite läuft, dass neue Kinofilme reinkommen, die neuesten.
Und wäre das hier ein Hollywoodfilm, könnte man Teenager sehen, die „Wickie und die starken Männer“, „Inglourious Basterds“ oder „Männerherzen“ anschauen, die aus der Schule kommen, den Rechner aufklappen und „Simpsons“, „Sopranos“ oder „Sex and the City“ aufrufen.
kino.to, bis zu 200.000 Besucher jeden Tag, 4 Millionen Klicks, eine der 50 meistbesuchten Sites in Deutschland.
Ein Exbulle nimmt Witterung auf
Die Anfangssequenz würde mit einem stoppelbärtigen Exbullen enden, der die Registrierungseinträge von Webseiten betrachtet, checkt, auf wen die Seiten angemeldet sind. Der Fahnder der Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen, GVU, der ermittelnde Arm der Filmindustrie. Er würde den Namen Dirk B. sehen und etwas zu schmierig lächeln.
Und dann Schnitt. Stille. Ein Knallen. Ein Mann in Arbeitskluft lässt eine Teppichrolle auf einen Fußboden fallen. Im Bild erscheint Schrift: Leipzig, 2001. Alles auf Anfang.
Dirk B. verlegt Teppiche. Er ist 27, hat Dreher gelernt. Er ist geschieden, muss Unterhalt zahlen, er hat Schulden. Das Geschäft läuft nicht. Abends setzt er sich oft vor den Computer. Dirk B. wählt sich mit einer Software von T-Online ins Internet. Es ist die Zeit, in der Boris Becker für AOL Werbung macht. Millionen Menschen laden mit der Musikbörse Napster Songs herunter. B. lässt sich von Homepage zu Homepage treiben. „Hallo, bin hier gelandet und habe mich eine Weile aufgehalten. Sehr schöne Bilder“, tippt er im Februar 2001 auf eine Seite, auf der er Fotos aus Ägypten angesehen hat.
Das Internet ist wie ein weites, neues Land, das immer mehr Menschen mit Homepages besiedeln. „Musst du sehen!“, steht da oft, als läge hinter jedem Link eine Sensation. Dirk B. hat auch eine Homepage, er lässt Delfine über die Seite springen und zeigt Bilder von Freunden. Beim Surfen stößt er auf eine Kopiertechnik namens eDonkey: Filmdateien werden über viele Rechner verteilt, mal hier, mal da gespeichert, zusammen ergeben sie einen Film. Er meldet eine neue Seite dafür an: saugstube.de.
Saugstube? Es ist eines der Details, deren Ursprünge schwer zu ergründen sind, wenn man versucht, die Geschichte von kino.to und Dirk B. zu rekonstruieren – mithilfe von Akten, von Aussagen vor Gericht, von Spuren im Netz und durch Gespräche mit Beteiligten, die sich aus Angst vor Konsequenzen nicht namentlich zitieren lassen. Saugstube: Vielleicht dachte Dirk B. an die Teppichreinigung, mit der er sein Geschäft beleben wollte. Oder er spielte darauf an, dass er da schon Dateien aus dem Netz zusammensaugte.
Die Frage, ob das Kopieren von Musik, Spielen oder Windows-Betriebssystemen erlaubt ist, spielt damals in diesem neuen Netzland für viele keine große Rolle. Man verweist recht offen auf Seiten, auf denen es Spiele oder Programme gratis gibt. Es geht ja irgendwie nur um Links. In Berlin fordert die CDU zwar ein schärferes Urheberrecht, aber kaum jemanden interessiert das.
Ein Gymnasiast entwirft die ersten Code-Zeilen
In Leipzig gibt Dirk B. das Teppichverlegen auf. Manchmal fehlt ihm jetzt Geld für die Miete. Er merkt, dass man im Netz verdienen kann: mit Werbung. Sein Problem: Er kann nicht programmieren. Mit den ersten Werbebannern der Saugstube bringt er es anfangs auf 1.000 Euro im Monat. Da mailt ihm ein Gymnasiast aus Hamburg, dass er eine Antispam-Software geschrieben hat, die er über die Saugstube verteilen möchte. Gern, antwortet Dirk B, und ob er ihm nicht ein wenig helfen wolle? Bastian P., ein stiller, bleicher Perfektionist, entwirft erste vernünftige Code-Zeilen für die Saugstube. Die Seite wird bekannter.
Um mehr Geld zu verdienen, braucht Dirk B. mehr Besucher. Dafür bräuchte er größere Server, mehr Platz für das Tauschen von Filmdateien, von Spielen, von Musik. Die billigsten Server stehen in den USA, aber B. kann kein Englisch und er hat nicht mal eine Kreditkarte.
Was er allerdings kann: Leute bequatschen, etwas für ihn zu tun – auch ohne Bezahlung.
2002 meldet sich B. bei einem Wessi, der Michael heißt und gerade seine Fotoläden im Osten dichtmachen musste. Er ist in Techforen zu Hause, er vermittelt Platz für Homepages. Dirk B. überredet ihn, Serverplatz in den USA zu besorgen.
Die Internetleitungen übertragen immer schneller immer größere Dateien. „Star Wars Episode II“ kursiert im Mai 2002 sechs Tage vor dem Start in Netzen, die Gnutella oder Kazaa heißen. Täglich werden zu dieser Zeit 400.000 bis 600.000 Filme übertragen, schätzen Marktforscher der Firma Divine.
Die Diskussion um das Filmurheberrecht ist nun im Alltag angekommen. „Raubkopierer sind Verbrecher“, plakatiert die Filmindustrie. Richten sie Milliardenschäden an, wie die Kinolobby beklagt? Deren Umsätze wachsen um die Jahrtausendwende. Die Deutschen gehen nicht seltener ins Kino.
Die Leute, die im Netz Filme hin- und herschicken, sprechen von Teilen oder Tauschen. Die Filmproduzenten sagen: Raub. Aber kann Vervielfältigung Raub sein? Die Antwort ist strittig, sie ändert sich, und das ist einer der Gründe, warum sich aus dem kino.to-Stoff nicht einfach ein Actionfilm bauen lässt: Nicht nur die Akteure entwickeln sich im Verlauf der Geschichte. Sondern auch die Regeln, der Rahmen, von dem abhängt, was gut ist und was böse.
Die Gesellschaft zur Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen wird auf die Saugstube aufmerksam. Um herauszufinden, wer die Seite betreibt, müssen die Fahnder sich nur an die Denic wenden, die Internetadressen mit der .de-Endung vergibt und die Namen und Adressen der Besitzer festhält.
Einen Tag nach seinem 30. Geburtstag klingeln Vertreter der GVU und zwei Polizisten bei Dirk B. und durchsuchen seine Wohnung. Sie nehmen den Computer und mehrere Festplatten mit.
2003 ist in Deutschland ein neues Urheberrechtsgesetz in Kraft getreten, das es klar verbietet, Filme im Internet zu verbreiten, deren Rechte man nicht besitzt. Ein Jahr später wird Dirk B. zu 3.900 Euro Geldstrafe verurteilt, weil er illegal Filme wie „Herr der Ringe – die zwei Türme“ vertrieben hat. Er lernt. Seinen wirklichen Namen wird er in Zukunft nie mehr angeben.
2005 zieht er mit seiner Frau nach Lloret de Mar ans spanische Mittelmeer, zweieinhalb Zimmer. Sie wohnen im Sommer in Spanien, im Winter in Deutschland. Die Saugstube endet jetzt auf .to. Die Registrierungsstelle des Königreichs Tonga veröffentlicht die Namen der Adressbesitzer nicht.
Eine Technik aus den USA, Cola, Kippen und 500 Euro
Dirk B. hört, dass es in den USA eine neue Möglichkeit gibt, Filme im Netz zu sehen. Man muss sie sich nicht herunterladen, man spielt sie direkt auf der Seite ab, per Stream. Zusammen mit dem Programmierer und einem Webdesigner entwerfen sie Anfang 2008 die neue Streaming-Seite. Aus der Saugstube wird kino.to. P., der Perfektionist aus Hamburg, bekommt fürs Programmieren Cola, Kippen und 500 Euro.
Im Frühjahr 2008 geht kino.to online. Auf der Seite stehen Links zu Filmen und Serien. Im Sommer titelt bild.de: „Aktuelle Kino-Hits illegal im Netz zu sehen“. Der Ansturm der Nutzer ist groß, die Server brechen zusammen. Bastian P. programmiert eine stabilere Version. Er nennt sie V2.
Immer wieder melden sich Konkurrenten bei den Fahndern der GVU, die Akteure der weit verzweigten Filmportalszene denunzieren wollen. Was die GVU aber braucht, sind Beweise, die Staatsanwälte überzeugen.
Seit die schnellen DSL-Verbindungen die Filme immer ruckelfreier auf die PCs zu Hause übertragen, ist die Zahl der Kino-Besucher zurückgegangen. Teenager, die mit Youtube und Youporn aufwachsen, zahlen ungern fürs Kino. Ein wiederum verschärftes Urheberrechtsgesetz verbietet seit 2008 den Tausch von Privatkopien. Aber Dirk B. und seine Kollegen sind ja weiter, sie streamen längst.
Ist das illegal? Wenn Nutzer die Dateien gar nicht herunterladen? Es ist schwierig, der schnellen, digitalen Welt mit Aktenordnern voller Papiergesetze beizukommen.
Die Server von kino.to stehen jetzt in den Niederlanden. Filmfirmen schicken täglich bis zu 100 Beschwerdemails an den Serverbetreiber. Der kino.to-Server wird nach Russland verlegt.
Die GVU-Fahnder chatten, treffen Informanten und stoßen auf Spuren zu den Firmen, die die Werbebanner für kino.to organisieren, eine führt in die USA, eine nach Spanien. Die Firma heißt PAD Medianet SLU. Der Sitz: Lloret de Mar. Der Verdacht: Dirk B. Und Beweise?
Die GVU stellt Strafanträge. Aber die Fährten verlieren sich im Netz. Falsche Namen, falsche Adressen.
kino.to wächst. Dem Programmierer zahlt Dirk B. ein monatliches Gehalt von 2.500 Euro, Administratoren bekommen ähnlich viel. Auf der Website steht weiter, dass man nur eine Linksammlung sei, aber in Lloret de Mar, Hamburg und Leipzig perfektionieren Dirk B. und seine Leute das System, das Filme aufsaugt und verlinkt.
Ein Wiener Geschäftsmann mit Bubi-Face meldet sich bei Dirk B. und verspricht, er könne deutlich mehr Werbegeld einstreichen, wenn sie kooperierten. Dirk B. macht mit. Die Besucherzahlen steigen, die Werbeeinahmen auch. B. kauft ein Haus in Leipzig, die Familie zieht nach Mallorca, er bestellt den Mercedes SL AMG, schwarz, mit dem er nachts über die Inselstraßen bläst. Er arbeitet meist vom frühen Abend bis in den frühen Morgen. Cola, Red Bull, Kaffee. Tagsüber schläft er.
Wäre die Geschichte von kino.to ein Hollywoodfilm, man hätte Schwierigkeiten, mit einfachen Bildern zu erklären, wie das komplizierte System funktioniert. Vielleicht so: Auf der untersten Ebene beschaffen Netznerds möglichst neue Filme, knacken den Kopierschutz von DVDs oder laden sie von anderen Portalen herunter. Sie heißen Uploader, Hochlader. Die Uploader stellten ihre Filmdateien auf die Server von Filehostern. Man könnte sagen: Datenherbergen. Von der kino.to-Seite werden die Nutzer zu den Seiten der Filehoster geleitet, wo die Filme lagern.
Dirk B. hat wenig Kontakt zu den Uploadern. Er bespricht sich vor allem mit dem Programmierer und den Administratoren, die die Verlinkungen im System koordinieren. Wichtig sind ihm auch die Freischalter: Sie kontrollieren die Links, die von kino.to zu den Filmdateien führen, und geben sie für die Seite frei. Eine Art Qualitätsprüfung. B. verbietet Pornografie und russische Filme – denn in Russland stehen ja die Server.
Einer der Freischalter ist ein Ostfriese, ein Maurer, der um die Jahrtausendwende wie Dirk B. im Netz herumsurft und eine Homepage mit Fantasymalereien und Böhse-Onkelz-Songtexten betreibt. Wenn sich die Mitarbeiter von kino.to in einem Leipziger Restaurant zur Weihnachtsfeier treffen und dort in Korbsesseln zusammensitzen, fällt der laute Norddeutsche auf. Bastian P., der stille, akribische Programmierer, kann ihn nicht leiden. Er hält den Ostfriesen für faul, obwohl der mit seiner Frau bis zu 3.000 Filme am Tag prüft. Der Freischalter fühlt sich unterbezahlt. Ein Streit schwelt.
Bastian P. hängt dauernd vor dem Rechner. „Wenn ich um acht Uhr ins Kino gehen wollte und die Seite brach zusammen, das ging gar nicht“, wird er später sagen. Dirk B. treibt den Wettbewerb auf der Suche nach den allerneuesten Filmen an. Die Uploader sehen im zentralen System Listen: Welche Blockbuster fehlen noch? Die Filme selbst interessieren ihn wenig. Er ging schon als Teppichverleger kaum ins Kino.
Die Werbung organisiert B. aus Wien. Manche Werbeeinblendungen führen direkt in die Abzockfallen des Wieners. Er zieht die Fäden eines Scheinfirmengeflechts, sagt einer, der für ihn gearbeitet hat.
Im April 2012, als die kino.to-Leute in Haft sind, als fünf Prozesse schon zu Ende gegangen sind mit Strafen von drei Jahren oder mehr, als manche schon im offenen Vollzug arbeiten, da presst sich der Schauspieler und Regisseur Simon Verhoeven an einem trüben Nachmittag auf einem Podium in einem Berliner Hotel in seinen Sessel. Es ist der Tag zum Schutz des geistigen Eigentums. Die Filmwirtschaft lädt zur Diskussion. Im Publikum sitzen „Tatort“-Autoren, die gerade in einem offenen Brief beklagt haben, dass ein freies Internet kein kostenfreies Internet sein müsse. Es ist ein Treffen der Wütenden. Und Verhoeven ist der Wütendste, er krallt seine Finger in die Lehne des Sessels, als müsse er sich festhalten, damit er nicht durch die Decke schießt. Sein Gesicht ist feuerlöscherrot.
Bullshit, ruft der Regisseur. Er fühlt sich beklaut
Der Mann, der Verhoevens Blut im Kopf pulsieren lässt, ist ein Musiker der Piratenpartei mit langen roten Haaren und einem Hut, der sagt, dass Kunst nach Aufmerksamkeit strebt, dass sie die im Internet bekommt, dass es zwar keine direkte Honorierung gebe, dass man aber auf einem „zweiten Weg“ eine bekommen könne. Man müsse das System ändern. In jedem Fall habe das Netz alle zu Schöpfern gemacht.
„Bullshit“, ruft Verhoeven. Ein Film, sagt er, der Sohn Senta Bergers, sei ein Produkt, hinter dem Arbeitsstunden, Biografien, Familien stehen. Verhoeven hat „Männerherzen“ gedreht mit Til Schweiger. Als der Film im Kino anlief, stand er schon im Netz. Warum könne man nichts dagegen unternehmen? „Das Internet ist kein außerirdischer Raum auf dem Planet Fantasia“, ruft Verhoeven. Vorsicht, Zensur, warnten die Piraten. „Es hat nichts mit Zensur zu tun, wenn wir unsere Produkte schützen“, sagt Verhoeven. Irgendjemand baut Werbung um seine Filme, seine Songs und verdient mit seiner Arbeit Geld. Er fühlt sich beklaut.
Wäre das hier ein Hollywoodfilm, welche Rolle hätte Verhoeven? Der Rächer der Online-Enterbten? Ein Rebell gegen den Zeitgeist? Oder der Spross einer untergehenden Bonzendynastie, die die neuen Zeiten verpennt hat?
„Wir sind auch gegen kino.to“, sagt der Pirat. Aber es sei trotzdem etwas anderes, eine DVD im Laden zu klauen, als im Netz einen Film zu kopieren. Welchen Schaden verursacht eine Kopie? Und hat nicht die Filmindustrie Wege gefunden, an den kopierten Filmen zu verdienen, indem sie Nutzer von Kopierbörsen abmahnen lässt? Wer sind hier die Helden, wer die Schurken?
In diesem Hotelraum wird der Pirat niedergebuht. Aber als kino.to dichtgemacht hat, veranstalteten Schüler Schweigeminuten. Hacker haben die Seiten der GVU und die des Bundesjustizministeriums angegriffen.
Auf dem Podium der Filmakademie sitzt auch ein CDU-Abgeordneter, der dafür plädiert, jungen Leuten, die illegal Filme sehen, Warnhinweise zu schicken, vielleicht per Mail. Aber müsste man dafür nicht ziemlich genau nachvollziehen, wer sich wie im Netz bewegt? Will man das? Ist Streamen überhaupt illegal?
Damit kommen die nie durch, sagen sich einige der kino.to-Leute. Die Ermittler, der Staat, nie kommen die damit durch. Sind doch nur Links, Bytes, Bits.
Sommer 2010. Dirk B. trennt sich von seiner Frau, er hat jetzt eine neue Freundin und einen neuen Sportwagen, Audi R8, rot. Damit fährt er durch Leipzig.
Dann wird er erpresst. Jemand sagt, er habe Rechnungen, Beweise, die sie hochgehen lassen könnten. Wer steckt dahinter? Der Ostfriese?
Dirk B. lässt von seinem Anwalt einen Vertrag aufsetzen und übergibt die formelle Verantwortung an Bastian P., den Programmierer. Die Zahlungen laufen jetzt über Taiwan, wo Bastian P.s Freundin herstammt. Der Programmierer erhält 50.000 Euro im Monat.
Ende 2010 meldet sich der ostfriesische Freischalter bei den GVU-Fahndern. Er habe Beweise, er wolle Geld. Die Filmfirmen beraten. Sie beschließen, zu zahlen. „Ein niedriger sechsstelliger Betrag“, sagt die GVU-Sprecherin.
Am 8. Juni 2011 um 9 Uhr in der Früh zertrümmert ein Sondereinsatzkommando die Verandatür von Dirk B.s Leipziger Wohnung. Er liegt im Bett. Als er die Augen aufmacht, sieht er maskierte Polizisten. Die Männer mit den Maschinenpistolen überrennen in Hamburg den Programmierer, bei einem anderen stehen sie im Schlafzimmer. 13 Menschen werden verhaftet.
Es wären gute Szenen für Hollywood. Aber muss ein Rechtsstaat mit Maschinenpistolen gegen Filmkopierer vorgehen?
Der Programmierer bricht im Knast zusammen und nimmt seitdem Psychopharmaka.
1.110.543 Links zu urheberrechtlich geschützten Werken. Die größte Urheberrechtsverletzung, die wir in Deutschland je hatten, sagt der Staatsanwalt.
Es hätte wie Google oder Facebook sein können, sagt der Vertreter der GVU. Wäre kino.to legal gewesen. Etwas Großes.
„Es ist tatsächlich so, dass man nicht an andere Arbeiter denkt und Tontechniker und Schauspieler“, sagt der Programmierer vor seiner Verurteilung. Drei Jahre, neun Monate. Ohne Bewährung. „Ich möchte mich bei allen Filmtreibenden entschuldigen.“
Und wenn das hier ein Film wäre, dann wäre jetzt der Moment, an dem die Augen ein wenig feucht werden könnten.
Alle haben gestanden. Alle außer Dirk B.
Sein Anwalt dealt mit der Justiz. Die Justiz braucht Informationen. Einblicke. Sie feilschen. Es geht nicht um Teppiche, nicht um Filme, nicht um Hollywood-Action. Sondern um Lebensjahre. Im Gefängnis.
■ Johannes Gernert, 32, ist sonntaz-Redakteur. Sein erstes Kinoerlebnis: „Ronja Räubertochter“
■ Dieter Jüdt, 48, arbeitet als Illustrator in Berlin. Freut sich auf den neuen Wes-Anderson-Film