: Förderwahn und Verwöhnprogramm
KIND 3sat zeigt Dokumentation über Helikopter-Raben-Eltern („Generation Weichei“, 20.15 Uhr)
Vor 20 Jahren konnte ein junger Mensch, wenn er sein Elternhaus gerade verlassen hatte, um ein paar Monate jenseits des Großen Teichs zu verbringen, noch die Erfahrung machen, dass eine Telefonverbindung nach Hause nicht immer zustande kam und außerdem so kostspielig war, dass sich allzu regelmäßige Anrufe ohnehin verboten. Schreiben war natürlich auch eine Option – gibt es die noch, diese an den Rändern blau-weiß-rot-gestreiften Luftpostumschläge?
Heute ist alles anders. Die ersten Einstellungen des Films zeigen blutjunge Leute auf großer Reise, am Trafalgar Square, die unisono in die Kamera erklären, sich selbstverständlich täglich bei Mutti zu melden. Mit dem Smartphone kein Problem. Die neuen Medien haben einiges mit dieser „Generation Weichei“ – so auch der Filmtitel – oder „Generation Y“ zu tun. Es sind die Kinder der Helikopter-Eltern. Oder Curling-Eltern, wie sie in Schweden heißen. Diese Eltern beauftragen Firmen wie Brickhouse Security, ihren Nachwuchs mit GPS und „Cell-Phone-Spy“-Software zu überwachen. Eine Mutter informiert sich über Möglichkeiten, ihrer Tochter einen Chip unter die Haut zu pflanzen.
Wir merken, wir sind im Homeland der NSA und gleich daneben, in Kanada. Der Film, wie 3sat ihn zeigt, ist die deutsche Bearbeitung einer Produktion der Canadian Broadcasting Corporation (Autorinnen: Sharon Bartlett, Maria LeRose, Helen Slinger). Der Trafalgar Square liegt in der Perspektive der befragten Eltern jenseits des Großen Teichs, nicht nur des Kanals. Für die deutsche Sicht hat allein der dazwischengeschnittene Josef Kraus zu sorgen, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und Schulleiter in Bayern, Kruzifix an der Wand, der das gute alte Leistungsprinzip – „ein ganz originäres gesellschaftliches Architekturprinzip unseres Marktsystems“ – für hilfreicher hält als Förderwahn und Verwöhnung. Er benutzt sie nicht, aber „Weichei“ hält er bestimmt für die passende Vokabel.
„Von der Wiege bis zum Arbeitsplatz fördern und beschützen Eltern ihre Kinder heute“, heißt es zu Beginn des Films. Der Off-Kommentar muss das bald korrigieren, die Förderung beginnt schon vor der Wiege: „Maria Louie war noch schwanger, als sie begann, am IQ ihres Kindes zu arbeiten.“ Mithilfe eines elektrischen Gürtels namens BabyPlus – „BabyPlus babies are born to learn“. Inzwischen ist Tochter Abigail ein Jahr alt und Mutti richtet ihr eine Prinzessinnenparty für 4.000 Dollar aus. Sagt, ein Meilenstein sei erreicht. Dazu dann der Off-Kommentar: „Wie war das noch, als Geburtstage keine Meilensteine, sondern einfach nur Geburtstage waren?“
Weitere Meilensteine, Maria Louies und Abigails Zukunft: Vierjährige in Talaren, während der Graduierung an der Vorschule für bildende Künste, die ihre Eltern 1.200 Dollar im Monat kostet – „mit Mittagessen und Ausflügen“. Dann der ganze Stress um die richtigen Privatschulen. Viel später, an der Uni, Infoveranstaltungen, nicht für die Studenten, sondern für die Eltern. Es wird gesagt, Eltern wollten heute auch bei den Vorstellungsgesprächen für den ersten Job dabei sein und die Gehaltsverhandlungen mit dem Arbeitgeber führen.
Der Film lässt einen am Ende etwas ratlos zurück. Die vorgeführten Bespieleltern legen mit ihrer exzessiven Beklopptheit den Schluss nahe, dass die Welt hierzulande doch noch einigermaßen in Ordnung ist. Denn so, wie es im Film gezeigt wird, ist es hier nicht. Der Film tut aber leider so. Es wäre gut gewesen, die deutschen Bearbeiter hätten neben Josef Kraus noch ein paar hiesige Helikopter-Eltern besucht. Oder gleich einen eigenen Film gedreht. Dessen Off-Kommentar dann vielleicht auch nicht immer wieder so wohlfeil und überheblich hätte klingen müssen. JENS MÜLLER