: Frauen immer stärker unter Druck
AFGHANISTAN Häusliche Gewalt gegen Frauen und sexuelle Übergriffe auf Polizistinnen nehmen zu. Dies geht einher mit dem weiteren Abbau von Rechten durch Religiös-Konservative in der Karsai-Regierung
VON THOMAS RUTTIG
BERLIN taz | Ende September urteilte Afghanistans Oberstes Gericht im Fall der 16-jährigen Sahar Gul aus der Provinz Baghlan. 2012 war das Mädchen, das als 12-Jährige an einen viel älteren Mann verheiratet wurde, mit Folterspuren halbverhungert im Keller des Hauses der Familie gefunden worden. Ihr Ehemann ist flüchtig. Schwiegervater, Schwiegermutter und Schwägerin wurden vor zwei Monaten wegen Beteiligung an den Misshandlungen zu langen Haftstrafen verurteilt, von einer höheren Instanz aber wieder freigelassen. Dagegen klagte Gul, die nun in einem Frauenhaus lebt, mit Hilfe einer in Kabul lebenden US-Anwältin.
Doch wie der hinter verschlossenen Türen verkündete Spruch ausfiel, ist bis heute unbekannt. Nach taz-Recherchen gaben sich das Frauenministerium, die Sonderstaatsanwältin und das Oberste Gericht zugeknöpft oder uninformiert. Eine Änderung des Strafrechts vom Juni, die Aussagen Verwandter gegen Angeklagte verbietet, könnte Guls Fall gegen sie kehren. Die UNO sprach in einem Bericht von einer „besorgniserregenden Entwicklung“, die „Fälle häuslicher Gewalt überproportional beeinflusst“ und „Verfassungsgarantien zur Gender-Gleichheit“ verletze. Das islamische Recht – eine der Rechtsquellen des Landes – sieht in der Tat vor, dass solche „Ehrenfälle“ hinter verschlossenen Türen verhandelt werden können. Doch bezweifeln internationale Beobachterinnen, dass dabei das Wohl des Opfers im Mittelpunkt steht. Die Zugeknöpftheit in diesem Fall kann zweierlei bedeuten: Entweder will das Gericht nicht publik werden lassen, dass es gegen Sahar Gul entschieden hat, oder Konservative nicht mit einem positiven Spruch verärgern. So oder so zeigt der Fall, wie prekär nach zwölf Jahren internationalem Afghanistan-Einsatz die Lage in zentralen Rechtsfragen ist.
Afghanistans Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) hat im ersten Halbjahr 3.000 Fälle häuslicher Gewalt registriert. In 2.329 Fällen waren die Ehemänner verantwortlich. Gestiegen ist auch das Unrechtsbewusstsein, wie der Anstieg der Anzeigen zeigt. Das Urteil wird zeigen, wie sich die Frauen- und Menschenrechte entwickeln.
Ein gutes Jahr vor Abzug der Nato-Kampftruppen und dem damit erwarteten Rückgang an Interesse an dem Land hat die UNO noch andere Sorgen in diesem Bereich. Präsident Hamid Karsai ließ Mitte September die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillai abblitzen. Sie hatte ihn in Kabul aufgefordert, seine Ernennung fünf umstrittener und unterqualifizierter AIHRC-Mitgliedern rückgängig zu machen. „Meine Sorge, dass der Schwung bei der Verbesserung der Menschenrechte dabei ist zu schwinden, ist nicht beruhigt worden“, sagte Pillai.
Der von der Trägerin des alternativen Nobelpreises, Sima Samar, geleiteten AIHRC drohen international eine Herabstufung und damit weniger Mittel. Gerade hatte die UNO mitgeteilt, dass nach Jahren des Rückgangs die Finanzierung nichtstaatlicher Menschenrechtsprogramme wieder gestiegen war. Sie seien die „Hauptstütze“ gegen weiteren Rechteabbau durch Religiös-Konservative in der Karsai-Regierung. In der Polizei berichten 70 Prozent der dort unterrepräsentierten Frauen von sexuellen Übergriffen im Dienst. Zur Sicherung der Frauenwahllokale bei der Präsidentschaftswahl 2014 fehlen noch 10.000 der 12.000 benötigten Polizistinnen.