: Heute heißt das Chat
INTERAKTIV Van Gogh TV haben in Zeiten von Bundespost und Rundfunk das Netz gedacht. In Berlin ordnen sie ihren Nachlass
VON TILMAN BAUMGÄRTEL
„Schnauze, Hentz!“ Zweimal hebt Mike Hentz zum Reden an, zweimal wird er rüde unterbrochen. Dann wartet der Mitbegründer des Medienkunstkollektivs Van Gogh TV erst mal ab, lässt die anderen reden und macht sich Notizen – wahrscheinlich dazu, was er gleich erst einmal richtigstellen muss, wenn er denn dazu kommt. Ein bisschen erinnert ein Treffen mit den Mitgliedern der Gruppe an das Wiedersehen eines lang geschiedenen Paars, das nach Jahren der Trennung seinen Streit dort wieder aufnimmt, wo es ihn einst aufgegeben musste.
Man kann nicht unbedingt sagen, dass bei Van Gogh TV die Chemie stimmt. Aber zu funktionieren scheint sie noch so wie vor gut 20 Jahren, als die Künstlergruppe Anfang der 90er Jahre das Internet und die sozialen Medien vorweggenommen hat und Medienkunstgeschichte schrieb. Der Zwist zwischen den Mitgliedern muss zu den Voraussetzungen gehört haben, die es erlaubten, ein Unternehmen zu betreiben, das künstlerischen Gestaltungswillen mit technischer Innovation verband.
„Interaktives Fernsehen“ war damals das Schlüsselwort für eine Zukunft der Fernsehens, die bis heute nicht stattgefunden hat. Bei den Projekten, die Van Gogh TV mit dem Ponton European Media Art Lab um 1990 bei Medienkunstfestivals und der documenta IX durchführten, machten sie Medienkonsumenten kurzzeitig zum aktiven Mitgestalter dessen, was auf dem Bildschirm stattfand. Und so selbstverständlich das im Zeitalter von Facebook, Twitter und Youtube wirken mag, so eine abwegige Künstleridee war es anno 1986, als sich die Gruppe aus ehemaligen Mitgliedern der Aktionskunstgruppe Minus Delta t und Hackern gründete.
Ein paar Jahre später wären solche Vorstellungen dank des Siegeszuges des World Wide Web ein ganzes Stück leichter umzusetzen gewesen. Aber als die Gruppe sich daranmachte, die Ein-Weg-Medien Radio und Fernsehen zum kollektiven Kommunikationsmedium umzufunktionieren, taten sie das in einer – lange versunkenen – Medienwelt, die durch die öffentlich-rechtlichen Sender und die Deutsche Bundespost geprägt waren. Und die wollten sich nicht gern von einer zusammengewürfelten Truppe von Künstlern und Bastlern ins Handwerk pfuschen lassen.
Der Kampf gegen den medialen Status quo war nicht nur Teil der Kunstpraxis des Kollektivs, sondern vielleicht ihr wichtigstes Werk. Und daran wollen sie jetzt – nach mehr als zwei Jahrzehnten Sendepause – mit einer Ausstellung in der Berliner Galerie Petra Rietz erinnern: Die Ur-Mitglieder Mike Hentz, Benjamin Heidersberger und Salvatore Vanasco wollen in der Galerie, Karel Dudesek per Skype aus Peking, coram publico ihr Archiv ordnen.
Dieses Archiv ist umfangreich: Von 20.000 Stunden gesendetem Video- und Audiomaterial ist die Rede, plus Tagebüchern, Skizzenheften, Briefwechseln, Fotos, vielleicht sogar selbst entwickelter Software, sollte man die noch einmal ans Laufen bekommen. Genau wissen die vier Hauptmitglieder von Van Gogh TV das heute selbst nicht so genau, denn die Relikte ihrer künstlerischen Tätigkeit sind unter den vier Mitgliedern verteilt, und sollen nun zwei Jahrzehnte nach dem letzten großen und endgültigen Krach, der die vierköpfige Kerngruppe sprengte, zum ersten Mal gesichtet und bearbeitet werden.
Der Höhepunkt des Schaffens von Van Gogh TV / Ponton war zweifellos „Piazza Virtuale“, ein 100 Tage dauerndes Projekt während der documenta IX im Jahr 1992, bei dem man im Nachtprogramm von 3sat über Telefon und Videoschalten, via Fax und über das damals neue Medium der Mailbox miteinander kommunizieren konnte – oder auch nicht. „Hallo TV“ war der Spottname für das Format, weil sich am Anfang kaum jemand, der sich plötzlich „auf Sendung“ fand, mehr traute, als „Hallo“ zu sagen. Doch nach einigen Wochen on air fand das Programm sein Publikum, das oft stundenlang in der Telefonwarteschleife verharrte, um bei den nächtlichen Debatten mitzumachen – heute nennt man so was Chat.
Das knüpfte an eine Kunstpraxis an, die von der Vorgängerorganisation Minus Delta t entwickelt worden war. Sie fuhren 1982 etwa einen fünf Tonnen schweren Stein in einem Truck von Deutschland nach Bangkok und dokumentierten die Reise in einem Buch, das im Merve Verlag erschien. Das Leben sollte zur Kunst werden, alle Grenzen sprengen – auch und gerade diejenigen, die der Kunst bis dahin gesetzt waren. Die deutschen Romantiker wären entzückt gewesen, Joseph Beuys stand Pate.
Bei „Piazza Virtuale“ während der documenta IX übernahm die Technik die Rolle des großen Kommunikators über kulturelle und Ländergrenzen hinweg. Die zwanglose Kommunikation auf dem urbanen Marktplatz des alten Europa sollte im sich gerade öffnenden Cyberspace nachgebildet werden – dieses universale Kommunikations- und Gemeinschaftsbedürfnis haben Netzunternehmen heute zum Businessmodell gemacht.
Während der gesamten Dauer der Kunstausstellung sendete Ponton jede Nacht mehrere Stunden ein Programm, das zum Teil in Kassel in einer Container-Siedlung neben dem Fridericianum entstand, zum Teil von den 25 „Piazettas“ rund um den Globus kam, die sich in Deutschland, Tokio, New York und Wien befanden. Viele dieser kurzzeitigen Medienlabore waren in Ländern der Weltgegend, die – nach dem Fall der Mauer und dem Untergang der Sowjetunion – damals gerade aufhörte, zum Ostblock zu gehören: Ostberlin, Riga, Warschau, Moskau. Die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen gehörten zu den in den Sendungen am meisten kommentierten Ereignissen.
Die Mitschnitte dieser Sendungen sind heute unbezahlbare Dokumente einer sich ändernden Kommunikationslandschaft. Heute kann man sich über das Internet scheinbar in jeden Konflikt der Erde einklinken. Van Gogh TV nahmen die Situation voraus, sich als durchschnittlicher Smartphone-Nutzer von heute einer Flut von Nachrichten vom Tahrirplatz, dem Maidan oder aus Ferguson aussetzen zu können.
■ „Van Gogh TV: archive in progress“. Bis 2. Oktober in der Petra Rietz Salon Galerie, Berlin