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Archiv-Artikel

„Nouvelle vague allemande“

BUCH „Good bye, Fassbinder!“ des Franzosen Pierre Gras über den deutschen Film seit 1990 taugt als Überblick, wenn auch wichtige Regisseure fehlen. Besonders wertgeschätzt wird die „Berliner Schule“

Den insgesamt etwas bürokratischen Ton nimmt man als kleines Übel in Kauf

Der Titel des Buchs markiert schon das Problem: Mit „Good bye, Fassbinder! Der deutsche Kinofilm seit 1990“ ruft Pierre Gras den großen Namen der Vergangenheit an, um sein Buch über die jüngere Gegenwart des deutschen Kinos verkaufen zu können. Der Schatten ist lang, keine Frage. Besonders in Frankreich, wo das für die deutsche Fassung aktualisierte Buch vor vier Jahren erstmals erschien. Wenn es um Namen geht, die mit dem deutschen Film assoziiert sind, dann sind das im Ausland nach wie vor eher Fassbinder, Wenders oder Herzog als Akin, Petzold oder Karmakar – kleine Ausnahme womöglich: Tom Tykwer. Gras holt die Leserschaft also da ab, wo sie ist. Um ihr dann mitzuteilen, dass sich seit der Wende doch so manches getan hat.

Zunächst, das räumt er gleich ein, war in den späteren achtziger und früheren neunziger Jahren zwischen Alpenrand und Nordseestrand filmisch wirklich ödes Land. Mindestens, was den Nachwuchs betraf. Komödienerfolge wie „Der bewegte Mann“ blieben, künstlerisch sowieso dürftig, in ihren Wirkungen ganz auf Deutschland begrenzt. Dass eine wichtige Ausnahme wie Uwe Schrader mit keinem Wort vorkommt, ist dann natürlich doppelt ungerecht. Viel zu kurz kommt auch Dominik Graf. Und zwar wird Helge Schneider am Rande erwähnt, Wenzel Storch leider nicht einmal da. Aber schon klar: Bedauerliche Fehlanzeigen dieser Art gibt es bei einem Überblick immer.

Und natürlich wird man im Ganzen zustimmen müssen: Bewegung kam ins deutsche Kino erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, durch Aufbrüche unterschiedlicher Art. Zwei große nennt Gras. Zum einen, und sie stehen ganz vorne, die Regisseure mit X: Tom Tykwer, Dani Levy und Wolfgang Becker, die sich im Jahr des „Bewegten Manns“ mit dem Produzenten Stefan Arndt zusammentaten, um gemeinsame Sache zu machen. Mit „Lola rennt“ (1998) und „Goodbye, Lenin!“ (2003) ging die Sache bei Kritik wie Publikum gut. Tykwer mischt seitdem zwischen Europudding, Serienboom und Weltkino mit – während Wolfgang Becker nach seinem Welterfolg „Goodbye, Lenin!“ offenbar unter Schock stand und erst jetzt seinen nächsten Langfilm abgedreht hat.

Gras zollt den X-Filmern Respekt, seine besondere Wertschätzung jedoch gilt nicht ihnen, und schon gar nicht Fatih Akin, sondern jenen, die zu ihrem Glück oder Unglück in Deutschland unter dem Begriff „Berliner Schule“ zusammengesteckt werden. In Frankreich heißt das nobler „Nouvelle vague allemande“ und wird als Zusammenhang anerkannt, dessen Vertreter von Angela Schanelec bis Christoph Hochhäusler mindestens die filmhistorische Reflektiertheit, starkes Formbewusstsein und ein nicht-naiver Realismusbegriff einen. Der „ersten“ Generation (Schanelec, Arslan, Petzold) räumt Gras viel Platz ein und auch den jungen (Ulrich Köhler, Benjamin Heisenberg, Maren Ade – nochmal kurze Schmerzanzeige: Franz Müller fehlt). Sie haben es im deutschen Feuilleton und unter Kollegen nicht immer leicht, und auch bei den Geldgebern nicht. Dass Gras die herausragende Bedeutung der „Berliner Schule“ betont, ist ein großes Verdienst seines Buchs.

Als filmischer Kontinent sui generis und Kapitel für sich erscheint sehr zurecht Romuald Karmakar. Inhaltlich wie formal radikal vermisst er Gegenwart und Geschichte und schert sich um konventionelle Grenzziehungen wie die zwischen Fiktion, Experiment und Dokumentation herzlich wenig. Schön zu sehen, dass dem „kommerziellen Kino“ von Bernd Eichinger bis Til Schweiger ziemlich genau so viel Platz eingeräumt wird wie Karmakar ganz allein; und deutlich weniger als der „Kunst des Dokumentarfilms“: Schön dass die Verhältnisse hier einmal stimmen.

Für den Überblick also taugt dieser Band. Gras bietet Beschreibungen und Analysen der einzelnen Filme; er diskutiert, was die Regisseure verbindet und trennt; er ordnet ein, wertet, kennt sich gut aus. Er füllt eine empfindliche Lücke: Aus Deutschland gibt es Vergleichbares nicht. Da nimmt man den insgesamt etwas bürokratischen, zwischen Lexikon und Filmbewertungsstelle schwankenden Ton nicht gerne, aber als im Vergleich mit der Nichtexistenz eines solchen Bandes kleines Übel in Kauf. EKKEHARD KNÖRER

■ Pierre Gras: Good bye, Fassbinder! Der deutsche Kinofilm seit 1990. Aus dem Französischen von Marcus Seibert. Alexander Verlag 2014, 368 Seiten, 19,90 €

■ Am 25. 6. um 19.30 Uhr stellt Pierre Gras sein Buch im Institut français, Kurfürstendamm 211, vor. Anschließend gibt es eine Diskussion mit dem Autor und den Regisseuren Romuald Karmakar und Christoph Hochhäußler