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Archiv-Artikel

„Mit guten Gründen misstrauen“

ZUKUNFT Die Globalisierung stellt ein riesiges Demokratiedefizit dar. Was es braucht, ist Journalismus, der sich keine Ideologien aneignet, sondern sich auf die Wirklichkeit einer verwobenen Welt einlässt

Carolin Emcke

■ geboren 1967, Studium in London, Frankfurt am Main und Harvard. Promotion über „Kollektive Identitäten“, 1998–2006 für den Spiegel als Auslandsredakteurin in vielen Krisengebieten unterwegs. Seit 2007 freie Publizistin.

■ Die taz dokumentiert eine gekürzte Fassung der Rede, die Carolin Emcke am 10. Juli bei der Jahreskonferenz der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche zur „Lage des Journalismus“ hielt. Vollständige Fassung und weitere Info: www.carolin-emcke.de

VON CAROLIN EMCKE

Mehr als das Internet schreckt mich die zunehmende Neigung unserer Zunft, sich angstvoll mit sich selbst zu beschäftigen und darüber die Auseinandersetzung mit der Welt zu vernachlässigen. Diese Tendenz, die Wirklichkeit nur noch als Material für Texte oder Filme zu verstehen, also „Armut“ letztlich bloß für eine Rubrik zu halten, gehört zu den beunruhigendsten Deformationen und scheint mir schädlicher als jeder Konkurrenzdruck der Netzgemeinde.

Ich möchte über die gegenwärtige Lage der Welt sprechen und erst in einem zweiten Schritt über den Journalismus, den es braucht, um auf diese Welt zu reagieren. Es geht also nicht um eine deskriptive, sondern um eine normative Betrachtung: Nicht der Journalismus, den es gibt, ist mein Thema, sondern der, den es braucht, wenn denn Journalismus mehr – nämlich Öffentlichkeit – sein soll.

Die globale Welt ist verwoben

Globalisierung in kultureller Hinsicht ist ein Prozess der Vermischung, der Aneignung einer Tradition durch eine andere. Globalisierung bedeutet immer auch Hybridisierung, Vieldeutigkeit, Vielsprachigkeit. Insofern ist es gerade die Eindeutigkeit, die zu den eindeutigsten Verlierern der Globalisierung gehört. Vermeintlich zweifelsfreie Behauptungen oder einfache Gewissheiten sind seltsam stumpf und fragwürdig geworden. Ironischerweise taugt ausgerechnet die Globalisierung nicht zur globalen Analyse.

Die intellektuellen Landkarten können daher nicht einfach nur internationaler, sie müssen präziser und kleinteiliger werden. Globalisierung erzählt sich nicht global, sondern in lokalen Geschichten. Und die Ambivalenz ist der große Gewinner der Globalisierung.

Alle Fantasien von „Reinheit“ zerschellen an einer Wirklichkeit, die sich vor allem durch dichte Verflechtung auszeichnet. Für die Medien bedeutet das zunächst, dass der Konzeptjournalismus, der Geschichten gern in Gewinner und Verlierer einteilt, der polare Perspektiven aufbereitet, zu einfach, zu grobkörnig ist für die Figuren und Strukturen einer so verwobenen Welt.

Es bedeutet auch, dass wir uns von dem so lieb gewonnenen Konzept der „Authentizität“ verabschieden sollten, dieser Vorstellung, es gäbe das: einen „echten Muslim“, einen „authentischen Juden“; dieses Reinheitsgebot, das in Talkshows und auf Podien gepflegt wird, nur ein „echter Schwuler“ könne auch die Perspektive der Schwulen repräsentieren, nur eine „echte Afghanin“ könne die Position der Zivilbevölkerung Afghanistans erklären. Und von dem Gedanken, wir seien unglaublich liberal und tolerant, dass wir sie da reinlassen.

Aber wie ausdifferenziert und bunt gemischt es in diesen Kulturen und Lebensformen zugeht, wie zerstritten und lebendig, widersprüchlich und vielseitig die individuellen Biografien sind, wie sie dieses starre mediale Bild einer reinen Kultur oder Lebensform unterwandern – das zeigen wir selten. Was spräche denn dagegen, zwei Afghanen einzuladen bei einer Diskussion über den Krieg? Was spräche dagegen, zwei Bundeswehrsoldaten aufs Betroffenensofa zu setzen – und die Konflikte und Kontroversen zwischen ihnen zu zeigen? Was spricht dagegen, auch mal andere Muslime einzuladen: Es gibt nicht nur Necla Kelek und Seyran Attes, sondern auch Hilal Sezgin, Nurkan Erpulat und Özlem Topzu – um nur mal drei zu nennen.

Warum sollten in Zeiten der Mobilität und Flexibilität nur Herkunft und Zugehörigkeit zu einer Gruppe entscheidend sein? Wie sähe die journalistische Landschaft aus, wie sähe unser Bild von der Welt aus, wenn Juden nicht ausschließlich über Israel und den Holocaust ausgefragt würden, wenn Muslime nicht ausschließlich über al-Qaida und Ehrenmorde reden müssten und Schwule nicht ausschließlich über Sex? (Da sind sie immerhin in einer besseren Lage als Lesben, die dürfen nicht einmal über Sex reden.)

Anders gefragt: Zementieren wir mit unserer medialen Politik des Authentischen nicht die Vorstellung von einer Welt, die angeblich auseinanderfällt an den religiösen oder kulturellen Bruchstellen? Spielen wir damit nicht genau den radikalen Dogmatikern und Extremisten zu, die sich exakt diese Konfliktlinien nur wünschen? Und übersehen wir nicht stattdessen all die ökonomischen und sozialen Differenzen, von denen neoliberale Strategen sich wünschen, dass wir sie übersähen?

Wenn uns die Finanzkrise eines vorgeführt hat, dann, dass Globalisierung vor allem wechselseitige Verwundbarkeit bedeutet. Anders noch als der 11. September 2001, der als politisches Ereignis die Verwundbarkeit einer einzelnen Nation vorführte, und anders als die Wirtschaftskrise in Argentinien 2001, die uns den fiskalischen Zusammenbruch eines Landes zeigte, gab es bei der Finanzkrise 2008 f. kein Außen mehr, keine Gegend, die nicht betroffen wäre.

Die globale Welt ist verwundbar

Die wechselseitige Verwobenheit entpuppte sich als wechselseitige Verwundbarkeit. Die Eurokrise und die Instabilität Griechenlands bedeuten zudem, dass es keine unwichtigen Länder mehr gibt. Auch ein kleines, politisch schwaches Land kann das gesamte System gefährden.

Was das für den Journalismus heißt? Ich denke, es brauchte einen Journalismus, der sich nicht grundlos eine Ideologie zu eigen macht, nur weil sie sich gerade durchsetzt. Aus dem Sein lässt sich kein Sollen ableiten.

Es braucht einen Journalismus, der es wieder wagt, mit guten Gründen zu misstrauen. Denn nur so ist eine Krise des Vertrauens, wie sie im Moment besteht, zu vermeiden: indem wir rechtzeitig und begründet Zweifel äußern. Indem wir, als Journalisten, uns einer Aufgabe besinnen, die etwas aus der Mode gekommen scheint: Ideologiekritik als eine Form der Aufklärung, auf die wir uns ansonsten doch so vollmundig berufen.

Die Globalisierung, so Nial Fergusson, ist gekennzeichnet durch eine Verdichtung von Raum und eine Beschleunigung von Kommunikation, sie bedeutet letztlich die Aufhebung von Distanz. Mich interessiert hier nicht die Frage, ob diese Beschleunigung den Untergang des Printjournalismus nach sich zieht. Mich interessiert, was diese Beschleunigung von Kommunikation und die Entwicklung des Internets für unsere Vorstellung von Demokratie bedeuten.

Ich wünsche mir einen Journalismus, der sich weniger am Eiligen als am Wichtigen orientiert

Demokratie bedeutet, dass diejenigen, die von einer politischen Entscheidung betroffen sind, auch an ihrer Entstehung beteiligt werden. Eben für diesen Prozess, diesen Entscheidungsfindungsprozess, in dem die Betroffenen Rechte und Werte erwägen und erörtern können, braucht es in einer Demokratie eine kritische, unabhängige Öffentlichkeit. Es ist nicht wichtig, ob das per Radio oder Fernsehen, in Wochenzeitungen auf Marktplätzen oder im Netz stattfindet. Aber es braucht einen öffentlichen Ort, an dem eine Gesellschaft sich über ihre Werte und ihre Lebensweise verständigen kann.

Die globale Welt ist vernetzt

In dieser Hinsicht stellt die Globalisierung ein riesiges Demokratiedefizit dar: Es sind unendlich viel mehr Menschen von politischen, ökonomischen, ökologischen oder sozialen Entscheidungen betroffen als an ihrer Entscheidung beteiligt. Und hier braucht es einen Journalismus, der die Anderen nicht nur als Andere begreift, sondern diese Verwobenheit auch abbildet; der die Anderen als Eigene thematisiert – weil sie ein Recht haben, an den Diskussionen beteiligt zu werden, die sie selbst betreffen.

Es braucht einen Journalismus, der die eine globale Welt entwirft, auch wenn sie demokratisch noch nicht existiert; der immer mit einem utopischen Vorgriff das „Wir“ einer Öffentlichkeit behauptet, auch wenn die politische Ordnung es noch unterdrückt. Aus dieser Perspektive, mit einem Blick für die demokratische Funktion einer Öffentlichkeit, als der Ort, an dem eine Gesellschaft über ihre Werte streiten kann, aus dieser Perspektive erst wird die Entstehung des Internets interessant.

Wenn es stimmt, dass das Internet die Öffentlichkeit zunehmend individualisiert und fragmentiert, was bedeutet das für eine Gesellschaft? Wie gelingen dann noch die demokratisch so wichtigen Selbstverständigungsdiskurse über Werte und Normen? Inwiefern vergrößert zwar das Internet die partizipativen Möglichkeiten der Kommunikation, verringert aber die Gemeinsamkeiten, über die kommuniziert werden kann?

Wenn ich also zum Schluss sagen darf, was für einen Journalismus es braucht für diese Welt, dann würde ich mir Folgendes wünschen: einen Journalismus, der misstrauisch ist und zweifelnd daherkommt – nicht besserwisserisch, sondern fragend. Ich würde mir Geschichten wünschen, die ambivalent und offen sind, nicht eindeutig und geschlossen. Und Journalisten, die teilnehmend, nicht distanziert beobachten; die sich einlassen auf die Wirklichkeit jenseits des Hauptstadtbüros und den Blick für die „feinen Unterschiede“ behalten. Ich würde mir einen Journalismus wünschen, der alle Genres des Internets entdeckt, der sich die Räume dort erobert, wo es nötig ist, und sie sein lässt, wo es möglich ist.

Wie hat Henry Kissinger in Newsweek gesagt: „You have to know the difference between what is urgent and what is important.“ In diesem Sinne wünsche ich mir einen Journalismus, der sich weniger am Eiligen als am Wichtigen orientiert.