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Archiv-Artikel

„Ich wurde bezichtigt, geistesgestört zu sein“

KUNST In den Siebzigern wurde Gottfried Helnwein für wahnsinnig gehalten, weil er fotorealistische Bilder gequälter Kinder malte. Eine Besessenheit, sagt er, und malt sie noch: Gewalt sei sein Thema, Gerechtigkeit gebe es nicht. Ein Gespräch über Hitler und Donald Duck

Gottfried Helnwein

■ Der Mensch: Gottfried Helnwein, 65, wurde in Wien geboren und studierte dort Malerei an der Akademie der bildenden Künste. Nachdem ihm 1985 die Professur verwehrt wurde, wanderte er nach Deutschland aus. Seit 2002 lebt Helnwein mit seiner Familie in Irland und Los Angeles.

■ Der Künstler: Für das österreichische Magazin profil gestaltete er 1973 Cover zu gesellschaftlichen Tabuthemen, was heftigen Protest auslöste. Seine Arbeiten wurden beschlagnahmt, Ausstellungen geschlossen. Mit hyperrealistischen Bildern von verwundeten und bandagierten Kindern thematisiert Helnwein insbesondere die NS-Vergangenheit.

GESPRÄCH MICHAEL MAREK

sonntaz: Herr Helnwein, warum machen Sie menschliche Abgründe zur Kunst?

Gottfried Helnwein: Ich wollte nie Künstler werden. Als Kind oder Jugendlicher habe ich mir das als besonders langweiligen Beruf vorgestellt: mit Rauschebart oder Baskenmütze vor einer Leinwand zu stehen und abstrakte Bilder zu malen. Grauenhaft. Ich bin kurz nach dem Krieg in Wien geboren, damals ein schrecklicher Ort. Alles schwarz. Ich habe meine Umwelt als Hölle empfunden. Die Leute schienen gebrochen, bedrückt, sprachlos.

Sie waren dort an der Akademie der bildenden Künste.

Übrigens dieselbe Akademie, in der sechzig Jahre zuvor ein junger Mann zweimal durch die Aufnahmeprüfung gefallen ist. Das war der größte Fehler, den eine Universität je begangen hat.

Heißt das im Umkehrschluss: Sie wären ein Massenmörder wie Hitler, wenn man Sie nicht aufgenommen hätte?

Wir wissen nicht, was der Welt erspart geblieben ist.

Warum sind Sie doch Maler geworden?

Meine Elterngeneration hat nie über die NS-Vergangenheit gesprochen. Ich musste als nervendes, insistierendes Kind immer danach fragen. Als ich vom Holocaust erfuhr, war das eine Zäsur, ein Schock. Das hat alles verändert. Mein Vertrauen in die Welt war weg. Mich hat interessiert, wie jemand Lust empfinden und so viel Kreativität entwickeln kann im Zufügen von Schmerzen – gegen Leute, die hilflos sind: etwas, das sich durch die Geschichte gezogen hat, von der Inquisition, den Hexenverbrennungen bis in die Gegenwart. Das war mein Thema: Gewalt und Gewalt gegen Kinder.

Hatten Sie Rachegefühle?

Ich habe mir als Jugendlicher immer vorgestellt, Revolutionsführer zu sein, das ganze System zu stürzen und anzuzünden. Das hat sich als unrealistisch erwiesen, ich habe gespürt: Du musst Künstler werden.

Waren Sie ein Kind der Achtundsechziger?

Ich gehöre natürlich zu dieser Generation. Und ich weiß auch, warum diese Revolte weltweit stattfinden musste. Das Klima war damals so repressiv. Auf der Wiener Akademie war alles am Kochen. Maoisten, Spartakisten, Leninisten. Aber ich war sofort desillusioniert, als ich sah, wohin das geht. Viele dieser Jugendlichen mit ihren Parkajacken und unter dem Che-Guevara-Poster waren Kinder aus wohlhabenden Häusern. Keiner kannte einen Arbeiter, aber jeder wollte die Arbeiterschaft befreien. Ich fand das erbärmlich.

Wie haben Sie sich von den Achtundsechzigern entfernt?

Einziger Hoffnungsschimmer waren für mich die Donald-Duck-Comics. Das war eine Welt, für die es sich zu leben lohnte. Davor habe ich meine Kindheit in kalten Kirchen verbracht. Dort gab es die einzige Kunst, die ich bis dahin kannte: verwundete Märtyrer, verwundete Menschen, Leichen, Geißelungen. Diese Verehrung des Schmerzes und Todes hat sich bei mir verinnerlicht.

Manche Kunsthistoriker versuchen Kunstwerke aus der Biografie des Künstlers zu erklären. Bedeutet das bei Ihnen: Sie wurden seelisch verstümmelt und geschlagen?

Ich gehe häufig in meine Ausstellungen, um zu sehen, wie die Leute auf meine Bilder reagieren. Manche sagen: „Das muss ein Wahnsinniger sein!“ Und wenn ich mich vorstelle, entschuldigen sich die Leute: „Sie wirken ja ganz normal, wieso malen Sie solche Bilder? Hat man Sie misshandelt?“ Ich habe diese Hoffnung in den Augen gesehen, dass ich „ja“ sage. Aber so leicht wollte ich es ihnen nicht machen. Sie müssen mit den Bildern allein fertig werden.

Warum sind es oft Kinder, vor allem aber junge Mädchenkörper, die Sie malen?

Das waren für mich von Anfang an die einzigen Bilder, die infrage kamen. Ich habe begonnen, diese verwundeten, bandagierten Kinder zu malen, Aquarelle, ganz blasse Farben. Ich habe fast wie ein autistisches Kind gemalt. Es war wie eine Besessenheit, ich musste das malen. Meine Ausstellungen wurden abgebrochen, Bilder beschlagnahmt. Ich wurde bezichtigt, geistesgestört zu sein.

Ihre Darstellungen geschundener und gequälter Kinder aus den Siebzigern scheinen wie ein Kommentar auf die heutige Missbrauchsdebatte. Glauben Sie, Ihre Bilder sind zu früh gekommen?

Die Kunst ist immer zu früh dran, sie hat eine visionäre Kraft. Das sieht man in den Bildern von Goya und Hieronymus Bosch. Oder in den Romanen von Huxley und Orwell. Sie haben so präzise vorausgesagt, was wir heute erleben.

Wie reagieren die Menschen auf Ihre Bilder?

Ich bin erstaunt, wie viele Leute mich ansprechen, emotional bewegt sind. Manche umarmen mich, andere weinen. Konservative, alte Frauen, Jugendliche... Viele sagen zu mir: „Sie wissen gar nicht, wie sehr Ihre Bilder ein Teil meiner Kindheit waren.“ Ich habe nicht aus ästhetischen, sondern aus humanitären Gründen gemalt.

Man muss als Betrachter etwas durchleiden, durcharbeiten?

Ja. Ich glaube an die Katharsis durch die Kunst. Kunst kann jemanden völlig verwandeln. Und eigentlich kann das nur die Kunst.

Haben Sie auch Ihre eigenen Kinder als Modelle genommen?

Ja, obwohl ich die Kinder weniger als Modelle und mehr als künstlerische Partner betrachte. Mein erstes Modell Anfang der Siebziger hieß Sandra. Sie war sechs Jahre. Es hieß, sie sei ein schwieriges Kind, die Eltern waren verzweifelt. Aber ich fand, dass sie ein Kind mit Würde war und ungeheuer selbstbewusst, jemand, der Respekt verlangte, Typ Streetgang-Leader. Sie fragte mich: „Was krieg ich dafür? Ich will ein Fahrrad!“ Das ist eine Phase, die es nur bei Kindern gibt. Für Kinder ist das eigene geistige Universum, die eigene Welt tausendmal wichtiger als das, was sich in der sogenannten allgemeinen Realität abspielt.

Was hat Sie daran fasziniert?

Ein Kind denkt immer kreativ, kreiert und imaginiert sich die Welt um sich herum nach eigener Lust und Laune – ein Zustand, der dem Künstlersein sehr nahe kommt. Das hat schon Picasso gesagt: „Als Kind ist jeder ein Künstler. Die Schwierigkeit liegt darin, als Erwachsener einer zu bleiben.“ Die meisten Erziehungssysteme sind darauf ausgerichtet, das Kindsein zu brechen und einen Erwachsenen zu formen, der sich als Stahlarbeiter, Rennfahrer, Soldat, Politiker oder Anwalt verwenden lässt. Ein Kind würde solchen Unsinn nicht machen. Und die, die daraus halbwegs unbeschadet herauskommen, sind die Künstler.

Eltern haben Angst, dass ihre Kinder nicht gefördert werden …

… früher dachte man: Du musst Kinder schlagen, andernfalls kommen sie auf die schiefe Bahn. Man musste das Schlechte herausprügeln. Heute will man sie zu Tode fördern, beeinflussen und psychologisieren. Der Musiker Captain Beefheart hat mal einen guten Satz gesagt: „Meine Eltern haben mich leider nicht genug vernachlässigt.“

Sie haben häufig Nationalsozialismus und den Holocaust thematisiert. Glauben Sie denn an eine gerechte Strafe für die Täter?

Nein, es gibt keine Gerechtigkeit. Es gibt das Ideal der Freiheit. Wenn Sie sehen, dass der Friedensnobelpreisträger im Weißen Haus eine Todesliste hat, auf die er und seine Berater willkürlich Namen setzen, dass Tausende Menschen durch Drohnen weit entfernt von Amerika ausgelöscht werden, darunter Kinder und Unschuldige, sehen Sie, dass es keine Gerechtigkeit gibt.

Wollen Sie den Opfern Ihre Würde zurückgeben?

Täter sind für mich zu eindimensional. Ich wollte Menschen mit meiner Kunst zwingen, Opfern ins Gesicht zu schauen. Das ist der Grund, warum Goya die Gräuel des Krieges gemalt hat, nicht weil er sadistisch war oder ihm das gefallen hat.

Glauben Sie an Gott?

Ich glaube an Donald Duck. Für mich war er ein Gott, ein Heiland. Ich glaube, dass es eine geistige Dimension gibt. Etwas, was nicht materiell ist. Pasolini war der Meinung, dass ein Faschismus kommen werde, der viel schlimmer sei als der, den wir kennen – Konsumfaschismus. In einer materialistischen Welt denunziert man alles, was geistig, was Seele ist, als Fehlfunktion.

Ihr Markenzeichen ist der hyperrealistische Stil. Wollen Sie mit der Wirklichkeit schocken?

Es ist ein gutes Zeichen, wenn Menschen aus meiner Ausstellung rausgehen und eine Pause machen. Wann immer ich mit großer Kunst konfrontiert war, musste ich eine Pause machen. Ich halte das für ein Qualitätsmerkmal. Die Stones, Hendrix – das war Musik, die mich überwältigt hat.

Warum provozieren Ihre Bilder nicht mehr?

Wir leben im Westen in einer Kultur des Todes. Man merkt das im militärisch-industriellen Komplex, der die Welt mit Krieg überzieht. Man merkt das in der Unterhaltung, im Fernsehen, im Kino, in Computerspielen. Was diese Mitteilungen bewirken, ist, dass Menschen resignieren, abstumpfen. Kunst aber hat genau die entgegengesetzte Wirkung. Sie ist die einzige Gegenkraft zum Tod. Deshalb sind Diktaturen so empfindlich, was Kunst betrifft.

Sie leben in den USA, einer Gesellschaft, die, wie Sie sagen, im Prozess der Selbstzerstörung ist. Was bedeuten für Sie Überwachungsstaat, Drohnenkrieg, Selbstmordattente?

Ich beschäftige mich obsessiv mit dem Weltgeschehen. Aber, anders als im Journalismus, muss ich das nicht kommentieren. Es ist, wie wenn wir Shakespeare anschauen. Er schreibt ein Stück über einen kleinen schottischen König, der historisch völlig unbedeutend ist. Wen interessiert, was Macbeth gemacht oder nicht gemacht hat? Trotzdem ist es eines der relevantesten Dramen der Literaturgeschichte. Es beschreibt, was jeden Tag passiert: die Gier nach Macht, das Töten. Kunst hat eine Relevanz, die sich nicht durch den direkten kritischen Kommentar manifestiert, sondern durch eine langfristige Wirkung. Wie bei Goya. Goya hat nicht einen Krieg gemeint, er hat alle Kriege gemeint: Afghanistan, Irak, Vietnam.

Trotzdem leben Sie die Hälfte des Jahres in Los Angeles, einer Stadt, in der man sich zu Tode amüsiert.

Ich liebe Los Angeles. Ein Moloch, eine Stadt, die kein Zentrum hat, nicht kontrollierbar ist. Es gibt 150 verschiedene ethnische Gruppen, unzählige Religionen, alles durcheinander. Die Luft ist verpestet, 24 Stunden Lärm. Wenn ich wissen will, wo die Welt gerade steht, ist L. A. der Logenplatz, um das zu beobachten. Die Parallele zwischen dem Römischen Reich und dem angloamerikanischen Empire ist verblüffend. Wir haben in den USA eine Militärmacht, die die ganze Welt besetzt hält. Wie das Römische Reich, das nie wirklich von außen besiegt wurde, sondern von innen durch Dekadenz implodierte. Wenn man sich die Kinder anschaut, die Massenmorde an Kindern begehen – das ist ein völlig neues Phänomen.

Ein schönes Plädoyer, die USA zu verlassen.

Für mich sind das Gründe zu bleiben. Wenn die Welt schon untergeht, will ich es offenen Auges erleben. Ich hasse es, überrascht zu werden und unwissend zu sein. Ich will dabei sein, so bewusst wie möglich.

Ihr Anwesen in Irland wirkt dagegen wie eine Idylle.

Das ist die absolute Gegenwelt. Ich verbringe ein halbes Jahr in Amerika und ein halbes in Irland. Dort ist die Luft klar, man sieht nur Schafe und Kühe, unberührte, schöne Natur. Die Leute sind nicht geisteskrank, jeder ist freundlich und normal. Es ist, als würde man in einem Gemälde von Caspar David Friedrich leben. Ich finde das auch gut für meine Kinder und Enkelkinder.

Cyril, Mercedes, Wolfgang Amadeus, Ali – entstammen die Namen Ihrer Kinder einem Künstlerspleen?

Wolfgang Amadeus fand ich immer gut. Mein Sohn ist Schriftsteller geworden. Ali Elvis Dagobert Lanzelot ist Komponist geworden. Dann gibt es noch Cyril und Mercedes. Die haben nicht gesagt: Papa, du hast einen Knall. Ich wollte Ali ursprünglich sogar Muhammad Ali nennen, weil ich den Boxer so bewundert habe. Da war meine Frau dagegen. Was sich jetzt als Vorteil erweist: Bei Muhammad hätte er in Amerika an jeder Grenze Probleme mit der „Homeland Security“.

Hat es mit dem Vorwurf zu tun, Sie seien Mitglied bei Scientology, dass man in Deutschland weniger von Ihnen hört?

Ich bin alle zehn Jahre umgezogen, ich habe in Deutschland gelebt, dann bin ich weiter nach Amerika und Irland. Eigentlich sind wir immer wie eine Zigeunerfamilie weitergezogen. Wir leben wie eine süditalienische Großfamilie. Meine Frau und ich leben noch mit unseren Kindern. In Los Angeles sitzen wir alle zusammen am Tisch – und auch in Irland während des Sommers.

„Unzählige Religionen, 24 Stunden Lärm. Wenn ich wissen will, wo die Welt gerade steht, ist L. A. der Logenplatz, um das zu beobachten“

Ihre Kinder ziehen mit?

Ja, meine Tochter hat ihr Atelier nebenan. Mein Sohn ist mein Assistent. Meine drei Enkel sind immer dabei. Das war meine Vision als Großfamilie, und es ist wunderbar zu wissen, dass alle Kinder Künstler geworden sind.

Warum hat es von Ihnen nie ein klares Wort zu Scientology gegeben?

Ich kann nur sagen: Ich bin tiefgläubiger, bekennender Donaldist. Und es heißt: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.

Meinen Sie, jede Äußerung würde Ihnen falsch ausgelegt?

Was denken Sie?

Herr Helnwein, haben Sie heute schon gemalt?

Nein, ich habe seit längerer Zeit nicht mehr gemalt, weil ich dauernd unterwegs bin. Ich kann nur zu Hause im Atelier malen.

Was war der beste Moment Ihres Lebens?

Schwer zu sagen. Ein wesentlicher Moment war wirklich der, als ich mein erstes Micky-Maus-Heft geöffnet habe, so eigenartig das klingt. Ich war ein Kind und lebte in einer Schattenwelt, in einer Art Vorhölle. Ich war völlig orientierungslos. Und als ich dieses Heft aufgemacht habe, war es wie ein Tor zu einer Wunderwelt, wie ein Tor zum Paradies. Plötzlich war alles dreidimensional.

Ihre beste Eigenschaft?

Meine Neugier und Unzufriedenheit. Und meine Skepsis, ich will immer wissen, was wirklich los ist. Ich habe von früh an gemerkt, was für Märchen Erwachsene mir vorgesetzt haben. Was als Wirklichkeit, als Geschichte dargestellt wird, ist eigentlich eine Lüge, ein Fantasiegebilde. Wenn man daran kratzt, merkt man, darunter gibt es ganz andere Schichten.

Ihr größter Fehler?

Ich bin noch nicht skrupellos, radikal und konsequent genug. Und ich muss kompromissloser werden.

Die beste Ablenkung für Sie?

Meine Kinder und Enkelkinder. Ich werde gepackt und muss alles stehen und liegen lassen.

Sie sind nicht genervt, bei der Arbeit gestört zu werden?

Meine Enkelkinder nehmen sogar die Pinsel und malen in meine Bilder hinein. Sie dürfen das. Mir gefällt das, wenn Kinder diktieren können.

Michael Marek, Jahrgang 1960, freier Journalist in Hamburg, liebt Bilder, malt aber nicht