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Archiv-Artikel

Klarheit aus der Vogelperspektive

GEDICHTE Wo manches vergeht, weiß Dichtung Neues zu schaffen: Silke Scheuermann schöpft aus einem großen Wortfundus und erschafft damit visionäre Lyrik

In Scheuermanns Etüden auf Liebe, Schönheit und Augenblicke zwischen Licht und Schatten schimmert das Paradies

Was haben der Dodo, der Säbelzahntiger und Alice im Wunderland gemeinsam? Sie sind Teil einer „Zweiten Schöpfung“, der Weltenerschaffung der Silke Scheuermann. Während sich mancher ihrer schreibenden Zeitgenossen betulich auf Alltags- und Naturlyrik versteht, geht die 1973 in Karlsruhe geborene Autorin in ihrem neuen Gedichtband „Skizzen vom Gras“ aufs Ganze: Noch einmal beschwört sie ausgestorbene Tierarten herauf, lässt Rosen ein „Gloria Dei“ singen, arbeitet sie an einem „Paralleluniversum“, worin literarische Figuren auch mal auf Urzeitwesen treffen können. Everything is possible. Im utopischen Glanz wird das Alte förmlich „wild überwuchert von etwas Neuem“.

Das Mythische und Übermenschliche kennen Scheuermann-Liebhaber bereits aus ihrem zweiten Lyrikband „Der zärtlichste Punkt im All, Gedichte“ (2004) – von den kosmischen Weiten scheint es dann geradezu ein Katzensprung zur menschlichen Seele zu sein. Poesie macht es eben möglich. Indem Scheuermann „behauptet, dass ‚Ich‘ […] Leben schafft“, kommt der Dichtung ein kreatürlicher Auftrag zu. Der Mensch mag seine Rolle als pflegender Gärtner der Natur allzu sträflich verspielt haben, mithilfe der lyrischen Formsprache vermag er augenscheinlich neues Leben zu gebären. Pathetisch entpuppt sich ein Pollenflug als Triebkraft allen Seins, während der Löwenzahn von seiner unverwüstlichen Ewigkeit kündet.

Um die Tektonik der Welt noch zu formen, braucht es aber nicht nur einen reichen Wortfundus und die Souveränität einer jungen, unbeirrbaren Streiterin für das Schöne und Wahre, sondern gleichsam die Gabe, zuhören zu können. Scheuermanns Schöpfertum ist keines von oben, kein herrschaftliches, sondern eines, das um Dialog bemüht ist. Fast alle ihre Texte sprechen daher ein Du an, nicht selten begibt sich ein Ich mit ihm auf Spurensuche in die Vergangenheit, sie graben das Verschüttete aus, damit die Zukunft nicht in den Verdacht gerät, dieselben Fehler wie die von einst zu wiederholen.

Denn so wie die heute in Frankfurt lebende Autorin beschwingt und bildgewaltig von einer neuen Ära träumt, so schwarz zeichnet sie die Gegenwart des spätmodernen Menschen. Die Unmut über Klimakrise, Fortschrittseifer und Narzissmus mündet in die Erkenntnis: „Ihr habt alles verlassen, was euch / nicht genügte. Das Paradies, / vor allem, war unzureichend.“ Vom Gestern lässt sich nur noch sagen, dass es „überhaupt eine Zeit der Auflösung“ war. Immer wieder blinken Monitore und Medien in den Natur- und Liebesgedichten auf. Sie gleichen einem trügerischen Wegweiser, der stets droht, uns vom richtigen Pfad abzubringen.

Zum feierlichen Ton eines Stefan George und der Vorliebe für florale Kulissen, wie man sie von Marion Poschmanns poetischen Miniaturen her kennt, gesellt sich die Kulturkritik aus Michel Houellebecqs „Gestalt des letzten Ufers“. Der Frage, wie sehr uns Arbeit, Gesellschaft und allgemeine Beschleunigung zu zerreißen drohen, stellt Scheuermann in fast all ihren Werken. Mal scheitern ihre Helden – in Romanen wie „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“ (2007) und „Die Häuser der anderen“ (2012) an den sozialen Ansprüchen –, ein andermal an ihrem Lebensmittelpunkt. Es sind die Nomaden aus „Shanghai Performance“ (2011), einer Metropole, monumental und bedrückend zugleich.

Wohingegen die Wirklichkeit in jenen Werken kaum Auswege offenhält, zeugt Scheuermanns Lyrik von erstaunlicher Verve und Luzidität. Hierin, wo Untergang und Aufbruch in wenigen Versen kulminieren können, liegen alle Möglichkeiten. Oft werden die Leser einer anfänglichen Unschärfe gewahr, die mehr und mehr Gestalt annimmt, bis schließlich Visionen daraus hervorgehen: In Etüden auf die Liebe, die Schönheit, silbergraue Regentage, Augenblicke zwischen Licht und Schatten schimmert ein Hauch von Paradies und Ewigkeit durch.

Die wunderbar klare Vogelperspektive dieses Buches auf unsere Erde einzunehmen heißt, im Großen und Ganzen Trost zu finden. Die Genesis der – wohlgemerkt nicht völlig ironiefreien – zweiten Schöpfung Scheuermanns baut auf einem deprimierenden Hier und Heute auf, erst die Verse streben nach Höherem. Sinnbildlich beschwert sich das Efeu in einem Gedicht über all die menschlichen Klagen angesichts seines ungezügelten Wachstums. Doch was lohnt es, hinter jeder sich ausbreitenden Bewegung zugleich einen schlimmen Ausgang zu vermuten?

Das weise Rankengewächs entgegnet hellsichtig: „Erst, wenn ihr aufhört, das Ende / zu denken, seid ihr geheilt.“ Silke Scheuermanns Gedichte sind dafür das zuverlässigste Therapeutikum. BJÖRN HAYER

■ Silke Scheuermann: „Skizzen vom Gras“. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2013, 104 Seiten, 18,95 Euro.