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Archiv-Artikel

Masthähnchen der Meere

MEERESFRÜCHTE Krabbelndes aus der Tiefe hat sich dank Tiefkühlung einen Platz auf unseren Tellern erobert – die Jakobsmuschel hat ihn verdient

Meeresfrüchte essen mit gutem Gewissen

Austern aus Zucht, Atlantikküste in Frankreich und Holland. Keine Zufütterung, weniger Gewässerbelastung als bei fleischfressenden Meersfrüchten.

Garnelen und Crevetten aus Biozucht (Ökosiegel). Auf Zugabe von Antibiotika wird verzichtet, die Besatzdichte liegt deutlich unter der von konventionellen Zuchten.

Jakobsmuscheln aus Zucht in Europa und USA, keine Zufütterung, weniger Gewässerbelastung als bei fleischfressenden Meeresfrüchten.

Miesmuscheln aus Zucht im Mittelmeer, Nordostatlantik: keine Zufütterung, weniger Gewässerbelastung als bei Fleischfressern. (Quellen: greenpeace.de; wwf.ch)

VON TILL EHRLICH

Meeresfrüchte waren im deutschen Binnenland immer etwas Fremdes. Erst seit wenigen Jahrzehnten ist auch außerhalb von Gourmetkreisen bekannt, dass man das Fleisch spinnenartiger Krustentiere, die Fangarme des Kraken oder das Innere von Muscheln und molluskem Meeresgetier verspeisen kann.

Das große Krabbeln aus den Tiefen ferner Gewässer ist mit der Globalisierung des Essens in Deutschland populär geworden. Der Massenkonsum war überhaupt erst durch Kühltechnik und Tiefkühlindustrie möglich geworden, denn Meeresfrüchte sind schnell verderblich, da ihre Enzyme auch bei niedrigen Temperaturen wirksam sind und so die biochemischen Verfallsprozesse weiter gehen. Dank lückenloser Kühlsysteme konnten Hackepetersemmeln und Sülzkoteletts von tiefgefrorener Paella, von Garnelenspießen, Pizza Frutti di mare und ähnlichem Convenience Food verdrängt werden.

Die mediterranen Originale kannte man vage aus dem Urlaub im Süden, was die Akzeptanz der exotischen Tiefkühlkost als trügerische Boten einer kulinarischen Weltoffenheit wohl gefördert haben mag. Meeresfrüchte bieten dem Biss oft einen gewissen Widerstand. Prägnant ist auch ihr Geschmack, der von einer süßlichen Aromatik bestimmt ist und im gleichen Moment einen intensiven Meeresgeschmack mit salzigen und jodartigen Tönen entwickeln kann. Seit den Nuller-Jahren schwimmen Meersfrüchte bei uns auch in thailändischen Kokossoßen herum; zuletzt wurde mit Sushi dann noch die rohe Variante der Meeresfrüchte popularisiert.

Zu diesem Zeitpunkt war Astacus astacus, der heimische Edelkrebs, längst vergessen. Infolge der Industrialisierung – die gesunkene Wasserqualität – und durch eine vermutlich aus Amerika eingeschleppte Pilzerkrankung waren die Wildbestände nahezu vernichtet worden. Heute gibt es besonders in Bayern und in Skandinavien wieder wenige kleine Edelkrebsfarmen, doch eine Rarität ist er geblieben.

In den Niederungen der Hotel- und Restaurantgastronomie wird jedoch meist mit billigen tropischen Shrimps statt mit teuren heimischen Flusskrebsen gearbeitet. Shrimps sind die Masthähnchen der Meere; sie stehen heute allgemein als Synonym für Meeresfrüchte schlechthin. Gemeint ist meist das Schwanzfleisch von Garnelen, einer Krebsart, von der weltweit (noch) etwa 3.000 Arten existieren und 350 kommerziell gefischt werden. Das Problem ist, dass der sorglose Meeresfrüchteküchenboom auf Raubbau beruht. Garnelenschwänze sind billig, da jahrzehntelang die Weltmeere leergefischt wurden. Um die künstlich erzeugte Nachfrage nach billigen Meeresfrüchten weiterhin bedienen zu können, kommt der Großteil der Garnelenproduktion heute aus Industrie-Aquakultur. Garnelen sind – im Unterschied zu Muscheln – Fleischfresser, werden mit Fischmehl und Fischöl gefüttert, welches wiederum aus Wildfisch hergestellt wird. Hinzu kommen Antibiotika, die gegen Erkrankungen ins Wasser gegossen werden. Besonders in den tropischen Gewässern zerstört die konventionelle Garnelenzucht benachbarte Ökosysteme, wie etwa wertvolle Mangrovenwälder. Muschelzuchten belasten die Umwelt weniger, weil nicht zugefüttert werden muss – die Muscheln nehmen jedoch durch das Wasser Schadstoffe auf. Zertifizierte Biomuscheln sind teurer, aber eine Alternative.

Die Jakobsmuschel ist ob ihrer Schönheit der Inbegriff einer Muschel. Auch geschmacklich gilt sie als Primus inter Pares –weit vor der Auster. Das feste Muskelfleisch und ihr korallenfarbiger Rogensack, das Corail, sind Delikatessen, die sich mit fast allen Geschmacksrichtungen sinnvoll kombinieren lassen. Besonders interessant ist die Verbindung der dezent süßlichen Meeresaromatik des Muschelfleischs mit intensiven Gewürznoten wie Anis oder Vanille. In der französischen Küche war die Jakobsmuschel immer ein zentrales Thema, dem Kochkünstler große Aufmerksamkeit schenkten. Die Früchte des Meeres galten als etwas Rares und Besonderes; sie wurden als Kostprobe des Kostbaren geschätzt und mit Sorgfalt und Raffinesse zubereitet und serviert. Auf der festlichen Tafel symbolisierten sie die Fülle und den Reichtum der Meere, von dem man glaubte, dass er unerschöpflich sei. Man genoss das Innere der Jakobsmuschel als Delikatesse, nicht als alltägliche Kost. Eine in sich stimmige Zubereitungsart ist Jakobsmuschel à la Parisienne, hier werden Muschelfleisch und Corail mit Champignons und einer Weißweinsauce vermischt in die Muschelschale gefüllt, im Grill gratiniert und in der Muschel serviert, was saftig und feinaromatisch schmeckt. Man kann das Muschelfleisch auch braten, doch es wird zäh, wenn es durchgart. Es sollte in der Mitte roh bleiben.

Für 7,99 Euro hat Aldi Nord vor Weihnachten als Jahresendangebot etwa zwanzig tiefgefrorene kleine Muschelfleischstückchen (368 Gramm Abtropfgewicht) verkauft. Das waren Tiefsee-Scallops aus Wildfang im Nordwestatlantik, die keine Jakobsmuscheln sind, aber wie diese zur Gattung der Kammmuscheln zählen. Das aufgetaute Muschelfleisch schmeckt fad und neutral, wurde vermutlich gebleicht. Doch die Geschmacksfrage ist hier marginal: Muscheln sind kein Grundnahrungsmittel, es gibt keinerlei Notwendigkeit, ein edles, über Jahre gewachsenes Naturprodukt für 40 Cent pro Stück zu verramschen.