piwik no script img

Archiv-Artikel

Der große Durchbruch

GEISELNAHME Die Mauer in Berlin soll ein zweites Mal fallen. Für Luxuswohnungen. Skandal! So steht es in Zeitungen, so läuft es im TV. Doch die Geschichte stimmt so nicht

Als der Rummel groß genug ist, erklärt Klaus Wowereit die Mauerreste zur Chefsache

VON SEBASTIAN HEISER

Weltweit berichten Medien über einen barbarischen Vorgang in Berlin. Die Kernaussage all der Artikel und TV-Beiträge: In einer Nacht-und-Nebel-Aktion haben Bauarbeiter damit begonnen, einen der letzten Mauerreste niederzureißen, damit dort Luxuswohnungen entstehen können. Das Problem ist nur: Daran stimmt so gut wie nichts.

Zuerst einmal: Das Stück der Mauer, das von den Bauarbeitern herausgerissen wurde, fiel für eine Brücke. Nicht für Wohnungen. Zwar soll auch ein Teil der Mauer fallen, um Neubauwohnungen an die Straße anzuschließen. Aber das ist an einer anderen Stelle.

Zweitens werden die Dimensionen des Abrisses oft nicht richtig dargestellt. Die East Side Gallery in der Nähe des Berliner Ostbahnhofs ist rund 1.300 Meter lang. Die Mauer trennte hier einst Friedrichshain (Ost-Berlin) und Kreuzberg (West-Berlin). Nach der Wende wurde die Mauer auf der Ost-Seite von zahlreichen Künstlern bemalt. Auf der einen Seite der Mauer ist eine vielbefahrene Straße, auf der anderen Seite das Spreeufer mit einem Grünstreifen.

Bisher gibt es bereits fünf Mauerdurchbrüche, damit Spaziergänger das Ufer, eine Strandbar und eine Bootsanlegestelle erreichen können. Jetzt sollte eine neue Lücke von 22 Metern entstehen – für den Wiederaufbau einer Brücke, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.

2008 setzten Aktivisten einen Bürgerentscheid durch: Statt einer Straßenbrücke sollte nur eine Brücke für Fußgänger und Radfahrer gebaut werden. Auf den damals veröffentlichten Planungen ist zu erkennen, dass auch dafür eine Lücke in die East Side Gallery geschlagen werden sollte. Problematisiert wurde die Mauerlücke damals nicht. Den Aktivisten, die sich jetzt um ein welthistorisches Denkmal sorgen, war genau dieses Denkmal noch herzlich egal, als es einer Brücke weichen sollte. Übrigens war nie geplant, dass die Mauerteile ganz verschwinden – sie sollten in wenigen Metern Entfernung wieder aufgestellt werden. Der Bürgerentscheid ergab jedenfalls ein klares Bild: 87 Prozent der Abstimmenden waren für die Fußgängerbrücke.

Doch dann kam der Bau eines 63-Meter-Hochhauses mit Luxuswohnungen auf dem Grünstreifen zwischen Ufer und Mauer: Eine 89 Quadratmeter große Wohnung plus 26 Quadratmeter Terrasse kostet dort rund 910.000 Euro. Der Turm entwickelt sich zu einem echten Hassobjekt für Bürgerinitiativen: Die kämpfen schon seit Jahren dafür, dass das Ufer nicht bebaut wird. Stattdessen wünschen sie sich eine öffentliche Grünfläche. „Spreeufer für alle“, lautet die Parole.

Der Wohnturm am Ufer braucht auch eine Zufahrt. Deshalb sollte ein bisher fünf Meter breites Mauerloch um 7,80 Meter auf dann 12,80 Meter verbreitert werden. Die Aktivisten nahmen nun die Mauer in Geiselhaft, um den Turm zu verhindern. Sie vermittelten den Eindruck, als würde der letzte Mauerrest wegen der Luxuswohnungen irreparabel beschädigt. Und sie meldeten eine Demonstration an – allerdings vor dem Teil der Mauer, das der Brücke weichen sollte. Den Medien war es egal, sie berichteten trotzdem. Und alle fielen drauf rein. Der Wirbel – auch in den internationalen Medien – war so groß, dass am Dienstag der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit die Mauerreste zur Chefsache erklärte. „Wir haben eine Verantwortung, uns der Historie bewusst zu sein und die Mauer zu erhalten“, sagte der SPD-Politiker. Die Fußgänger und Radfahrer, die über die Brücke fahren, sollen nun die bereits bestehenden Mauerlücken nutzen. Mit dem Bauherrn des Wohnturms wird über die Zufahrt zu dem Grundstück noch verhandelt. Es gehe darum, eine „schonende Lösung“ zu finden, sagt Wowereit.

Damit könnte der Protest, auch wenn er mit unredlicher Desinformation arbeitete, am Ende doch noch eins seiner Ziele erreicht haben: dass mehr von der Mauer stehen bleibt. Sogar das eine Mauerstück, das am Freitag schon herausgerissen wurde, soll wieder eingesetzt werden. Nur der Turm mit Luxuswohnungen am Ufer – der wird trotzdem kommen.