: „Jeder soll bekommen, was er braucht“
MÜSSIGGANG (4 UND SCHLUSS) Es wird zu viel gearbeitet, sagt der evangelische Pfarrer Dirk Bartsch – kaum jemand habe noch Zeit für das Schöne und Nutzlose. Radikales Nichtstun lehnt er aber ab: Irgendeine für die Menschen nützliche Tätigkeit könne jeder ausüben
■ 57 Jahre, ist seit 16 Jahren Pfarrer der Evangelischen Luther-Kirchengemeinde in Schöneberg. Auf einem Kongress über das „Recht auf Faulheit“ 2001 in der Volksbühne machte er sich „Biblische Gedanken zur Nichtarbeit“.
VON SUSANNE MEMARNIA (INTERVIEW) UND ELÉNORE ROEDEL (ZEICHNUNG)
taz: Herr Bartsch, es gibt dieses berühmte Jesuswort von den Vögeln, die nicht arbeiten, und den Lilien, die sich nicht um Kleidung sorgen – und Gott ernährt sie doch. Ist das ein Aufruf zur Faulheit?
Dirk Bartsch: Es sieht so sorglos aus, wenn die Vögel im Sommer spielen, aber ich denke doch, dass sie arbeiten. Wir merken es daran, dass wir weniger Insekten haben, die uns quälen. Die Vögel tun also das, wozu sie da sind. Ich denke, man darf so ein Bild nicht überziehen. Es geht einfach darum, die Lebensfreude dieser Tiere wahrzunehmen. Es ist vielleicht auch ein Aufruf, Dinge lassen zu können, nicht immer alles machen zu müssen. Wir haben ja heute eine wahnsinnige Ungleichverteilung der Arbeit. Die Berliner Polizei zum Beispiel schiebt viele, viele Überstunden. Und ein Polizist, der zu viel arbeitet, fällt vielleicht auch mal eine falsche Entscheidung, die er ausgeruht so nicht getroffen hätte.
Aber es gibt ja auch viel zu tun. Wenn der Polizist seine Arbeit nicht macht, bleibt sie liegen.
Die Frage ist nicht, ob er seine Arbeit nicht macht. Es geht darum, dass der Arbeitsdruck immer weiter erhöht wird. Das sehen wir bei bestimmten Firmenübernahmen. Bei Grohe zum Beispiel, dem Armaturenhersteller: Als 2004 ein Finanzinvestor die Firma kaufte, wurde kurzerhand ein Großteil der Belegschaft rausgeworfen. Der Rest musste nun den gleichen Output liefern, um die Finanzierung zu bedienen. Das ist sehr oft das Problem: wenn Kasse gemacht werden soll, und das auf dem Rücken von anderen.
Aber die Geschichte von den Vögeln weist doch darauf hin, dass es Jesus nicht nur um Arbeit ging, sondern auch um Muße.
Sicher, darum kann es auch gehen: einfach die Lilien betrachten in ihrer Schönheit. „Selbst Salomon war nicht so schön gekleidet wie diese.“ Es gibt ja das schöne Sprichwort „Carpe diem“, preußisch übersetzt „Nutze den Tag“. Eigentlich heißt es ja „Pflücke den Tag“ – genieße ihn, mach etwas draus. Schau dir den Tag auch an.
Aber wie kann ich das, wenn ich immer um mein täglich Brot besorgt sein muss?
Es gibt da eine schöne Aufteilung des Tages von Thomas Moore in „Utopia“. Den Vormittag verbringt man mit Kontemplation und Bildung, sechs Stunden arbeitet man für den Broterwerb, und dann hat man Zeit für Kunst und Familie. Auch heute ist ja Arbeit für alle da. Es ist eine Frage der Verteilung von Gütern. Wir sind ja nicht arm in dieser Gesellschaft, im Gegenteil geht es uns so gut, dass wir Sachen wegschmeißen oder verkommen lassen. Wir haben zum Beispiel in der Wiltbergstraße in Pankow, wo ich wohne, zwei oder drei leer stehende Krankenhäuser. Da könnte man Flüchtlinge unterbringen, diese Häuser haben bis vor relativ kurzer Zeit noch funktioniert. Aber man hat sie dem Leerstand und Vandalismus preisgegeben, jetzt sind sie erst mal unbrauchbar.
Das Nichtarbeiten ist für viele ein Problem, weil Arbeit ihrem Leben Sinn verleiht. Sie können oft gar nicht „nicht arbeiten“, geschweige denn mit Muße etwas genießen.
Ich bin gerne am Bodensee. In der Nähe in der Schweiz gibt es ein Kloster mit einem sehr schönen Deckengemälde. Das kann man sich allerdings nicht im Stehen angucken, da bekommt man Nackenschmerzen. Also habe ich mich auf eine Kirchenbank gelegt. Sofort kam ein Mann vom Sicherheitsdienst, der dachte, hier habe jemand zu viel des süßen Weines genossen und wolle seinen Rausch ausschlafen. Ganz abgesehen davon, dass die Kirche kein schlechter Ort dafür wäre, ist es dieser Kirchendiener einfach nicht gewohnt, dass sich Menschen die Zeit nehmen und die Mühe machen, sich hinzulegen, um die Gemälde zu genießen. Die kann man zwar nur im Liegen richtig ansehen, aber genau das lässt man nicht zu. Man bräuchte also mehr Ruhe, um sich zu sagen: Soll er sich hinlegen – und wenn er einschläft, dann schläft er eben den Schlaf des Gerechten.
Aber diese Ruhe fehlt den Leuten. Auch die, sich hinzulegen und Bilder anzuschauen.
Ja, sie fehlt ihnen. Egal ob in Versailles, im Louvre oder in einem anderen Museum: Es ist bedrückend, dass die Menschen immer einäugig herumlaufen, mit Videokamera, und sich diese herrlichen Gebäude und Kunstwerke nur über die Monitore angucken. Kaum einer setzt sich hin und genießt einfach ein Bild.
Freizeit ist Arbeit.
Aber genau das soll sie nicht sein. Sie soll einfach freie Zeit sein, in der ich mich mit Kunst und Kultur befasse oder mit Dingen, zu denen ich sonst nicht komme. Wo ich auch mal Sachen mache, die scheinbar nutzlos sind. Ein Freund von mir hat eine Firma, dort arbeitete ein Industriemeister. Der hatte immer sehr spezielle Aufgaben zu lösen, und in seiner Werkstatt stand ein uralter Trabant. Immer wenn er mit der Arbeit nicht weiterwusste, begann er an seinem Trabant zu schrauben. Und wenn er eine Idee hatte, konstruierte er für die Firma weiter. Das Ziel war, sich mit etwas anderem zu befassen und den Kopf freizukriegen.
Aber das kann ja nicht alles sein. Müßiggang dient ja nicht nur dazu, seine Arbeitskraft zu regenerieren und Ideen für die Arbeit zu bekommen.
Dieser Müßiggang hat mehrere Funktionen. Eine ist schon die Regeneration der Arbeitskraft. Aber er hat auch den Nutzen, dass ich daran wachsen kann, wenn ich mich mit Kunst und Kultur, mit Philosophie auseinandersetze. Ich habe dadurch eine ganz andere Möglichkeit, auf die Dinge zu schauen. Dafür brauche ich Abstand. Wenn ich zu dicht an etwas dran bin, sehe ich nichts mehr. Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Erst wenn ich draußen bin, sehe ich, ob er zum Beispiel krank ist.
Ist jetzt der Wald ein Gleichnis für unsere Gesellschaft?
In puncto Arbeit haben wir sicher noch viel an unserer Gesellschaft zu tun. Es gab ja vor einiger Zeit die Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen. Das wäre zumindest eine Vereinfachung für die Betroffenen, die unter diesem Wust von viel zu komplizierten Vorschriften leiden. Aber die Krux ist natürlich, dass damit alle Ansprüche abgegolten sind.
Es muss also hoch genug sein.
Es muss so sein, dass man nicht verhungert, aber auch so, dass die Motivation bleibt, sich Arbeit zu suchen.
Sie meinen also auch, wie es in der Bibel heißt: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen?
Wer den anderen nur auf der Tasche liegen will, ist sicher schief gewickelt.
Aber man könnte ja auch sagen: Ich bin eher ein kontemplativer Mensch, denke gerne über Vögel und Blumen nach, mache Musik – und diejenigen, die gern ins Büro gehen, alimentieren mich, weil sie dafür kein Talent haben.
■ Die ruhige Zeit zwischen Weihnachten und den ersten Arbeitstagen im neuen Jahr sind Tage der Entschleunigung. Das ganze Land schaltet ein paar Gänge zurück, wird leiser. Die Tage sind erfüllt mit Völlerei, Wiederholungen im Fernsehen, dicken Wälzern, Ausschlafen, langen Spaziergängen.
■ Die taz hat für die entspannten Tage „zwischen den Jahren“ die passenden Ausreden gesucht: In der Serie „Müßiggang“ dreht sich alles um Faulheit in den unterschiedlichsten Facetten. Am Montag kam ein Coach zu Wort, am Dienstag ein Philosoph, am Freitag ein Tierexperte. Sie erklärten, warum Müßiggang so gut und richtig wie wichtig ist. (taz)
Warum nicht? Es gibt eben auch Menschen, die Schönheit generieren. Und sicher muss man Leute dort einsetzen, wo sie etwas können. Aber das heißt ja auch nicht, dass so jemand gar nichts tut.
Also unproduktive Faulheit akzeptieren Sie nicht?
Nein, man sollte schon versuchen, durch eigene Arbeit sein Geld zu verdienen. Irgendeine nützliche Tätigkeit für die Menschen kann jeder wahrnehmen.
Kommen wir zu einem anderen Thema: Nach einer verbreiteten Auffassung ist ja die protestantische Arbeitsethik – vor allem mit Calvins Lehre von der Prädestination, die besagt, dass man am Reichtum die von Gott Auserwählten erkennen kann – einer der Grundpfeiler des Kapitalismus. Wie schmeckt Ihnen das als Protestant und Kritiker des Kapitalismus?
Wie sehr die religiöse Überzeugung in Politik und Wirtschaft Einzug hält, ist noch die Frage. Oft wird ja eher die Religion als Deckmantel benutzt, um eigene Interessen zu kaschieren. Im arabischen Raum etwa haben Sie ja keine religiösen Konflikte, sondern wirtschaftliche. Zu sagen, der Protestantismus ist schuld am Kapitalismus, ist eine religiöse Verbrämung.
Schuld vielleicht nicht. Aber eine Denkungsart beeinflusst doch das Handeln.
Das Neue Testament und auch das Alte mit Salomon spricht schon davon, dass der Mensch sein Tagwerk schaffen soll. Aber im Alten Testament werden sie auch finden, dass Alte, Kranke und Schwache unter besonderem Schutz stehen. Die Qualität einer Gesellschaft erweist sich also daran, wie sie mit den Schwachen umgeht. Es geht eben nicht darum, zu sagen, nur wer reich ist, ist von Gott geliebt. Sondern der wirtschaftliche Erfolg muss immer korrespondieren mit den Rändern der Gesellschaft. Ich kann auch Jugendliche nicht permanent ausschließen von Bildungsangeboten und Ausbildung. Ein Hauptschulleiter sagte mir einmal, von seinen Schülern schafften es 83 Prozent nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt!
Was soll man also tun? Es gibt doch in der Bibel dieses Gleichnis vom Weinberg: Ein Weinbauer stellt am Morgen Arbeiter ein, sie vereinbaren einen Lohn. Später stellt er noch ein paar Leute ein, sie bekommen denselben Lohn. Die ersten sind darüber empört, weil sie ja mehr gearbeitet haben, aber der Bauer belehrt sie, das sei schon richtig so. Liegt die Lösung im Kommunismus?
Dieses Gleichnis heißt, dass jeder das bekommen soll, was er zum Leben braucht. Es ist genug Arbeit da, und wir leben in einer reichen Gesellschaft. Man muss sich nur an die richtigen Töpfe rantrauen: an die großen Konzerne, die keine Steuern zahlen.