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Archiv-Artikel

Führungsleute und Geballtheitszustände

BILDTAGEBUCH Der Schriftsteller Rainald Goetz stellte seinen Fotoband „elfter september 2010“ im proppevollen Suhrkamp-Haus vor

Stumpfe Rituale und Scheußliches, so Goetz, seien darin genauso abgebildet wie gut Ausschauendes

VON ARAM LINTZEL

Es war nicht ganz einfach, sich für die Buchvorstellung von Rainald Goetz’ “elfter september 2010“ im Berliner Haus des Suhrkamp Verlags zu verabreden. Im Vorfeld hatte sich bei manchen Bekannten die Sorge breitgemacht, selbst in dem sogenannten Bildtagebuch aufzutauchen, womöglich in unvorteilhafter Pose oder desavouierender Runde. Tatsächlich konnte man Rainald Goetz in den letzten Jahren an verschiedenen Schauplätzen mit Kamera begegnen. Seine kleine Olympus war da oft Accessoire mit Drohpotenzial, böse war ihm deshalb aber eigentlich nie jemand.

Auch deswegen wurde es dann doch proppenvoll im Suhrkamp-Haus. Riesenfotokopien aus dem Bildarchiv von Rainald Goetz waren in der überfüllten zweiten Etage des Gebäudes an der Pappelallee plakatiert, Zeitungscover zum 11. September 2001 und zur Loveparade-Katastrophe 2010 spannten grob den historischen Bogen, um den es gehen sollte. Das Buch selbst war allerdings noch nicht da, der Lieferwagen habe sich, so Pressesprecherin Tanja Postpischil, auf dem Weg von Frankfurt nach Berlin „verfahren“, befinde sich aber eine Stunde vor Berlin. Das einzig vorhandene sogenannte Bindeexemplar wurde von den Suhrkamp-Mitarbeitern aufmerksam behalten und bewacht.

„Ich präsentiere!“

Obwohl das Präsentierte also im Grunde noch abwesend war, stieg Goetz plötzlich auf einen Stuhl und deklamierte sichtlich überhitzt, aber wie immer hellwach: „Ich präsentiere!“ Nachdem er sich mit den ihn umringenden Kameras ein lustiges Knipsduell geliefert hatte, konnte es losgehen. Goetz stellte die Kapitelanordnung des Buchs vor: Das Kapitel „In den Ruinen der Projekte“ über die Jahre 2000–2003, das Kapitel „Ruine“ über die Jahre 2004–2007 und das Kapitel „Werkwärts 3 & 4“ über die Zeit von 2008 bis 2010.

Hauptthemen des Buches seien „drei Grundbanalitäten“, so Goetz, nämlich „Menschen, Häuser und Baustellen“. Zwischendrin las er aus seinen Büchern „Klage“ und „loslabern“ Stellen vor, die wohl zu dem Assoziationsraum der Fotos – die bis dato ja noch niemand der Gäste gesehen hatte – passten. In dem Buch, so Goetz, gehe es nicht nur, aber vor allem um die Stadt Berlin, von der er offenbar angezogen und abgestoßen zugleich ist. „Stumpfe Rituale“ und „Scheußliches“ gebe es dort genauso wie „gut Ausschauendes“. Wenn er im alten Westberlin sei, dränge es ihn wegen der „Geducktheit“ der Leute dort sofort zurück nach Mitte, denn: „Hier ist es schön, hier kann man gut denken!“ Beziehungsweise: „Rosenthaler Platz und Torstraße: schön!“ Diese emphatische Mitte-Affirmation sorgte nicht nur bei den anwesenden Mitte-Skeptikern für Überraschung und Amüsement. Mitunter wirkte die Präsentation improvisiert, so als stelle Goetz das frisch gedruckte Buch auch sich selbst vor.

Neben eigenen Texten las er aus Rolf Dieter Brinkmanns „Westwärts“ und aus Einar Schleefs „Zuhause“. Nicht nur wegen der Verweise auf andere Autoren löste sich das Autorensubjekt Goetz zunehmend auf, je länger die Leseperformance dauerte. Überhaupt sei nicht er selbst, sondern Panik der eigentliche Autor des Buches, behauptete Goetz. Wer sah, wie er schwitzte, bebte, zitterte und vom Stuhl auf- und absprang, konnte daran unmöglich zweifeln.

Nebenbei widerlegte Goetz damit die naheliegende ideologische Verkennung, dass für ihn als Textmenschen das Fotografieren eine Lockerungsübung sei. Nein, angesichts der „Geballtheitszustände auf Bildern“ (Zitat Goetz) ist er genauso angespannt und gestresst, wie man ihn kennt.

Für diejenigen, die vor der Veranstaltung mit ihrer Paranoia kokettiert hatten („Oje, vielleicht bin ich in dem Buch drin!“), las Goetz mitten in der Leseperformance eine alphabetische Namensliste aller abgebildeten Personen vor. Da aber immer noch niemand das Buch zu Gesicht bekommen hatte, sorgte das bei diesen kaum für Erleichterung. Und so wartete man nach der etwa halbstündigen Leseperformance weiter auf das Buch, die Lieferung steckte selbst spätabends noch „eine Stunde vor Berlin“ fest, sodass die Suhrkamp-Mitarbeiter irgendwann das Bindeexemplar freigaben.

Objekt des Begehrens

Dieses zirkulierte fortan als Objekt des Begehrens, es bildeten sich flüchtige Kleingruppen, einer blätterte, und mehrere schauten in das Buch. Darin sahen sie Party People, Straßensituationen, Kunstleute, Baustellen, melancholische Politiker vor Mikrofonen, allerlei semiprominente Führungskräfte aus Kultur und Medien, aber auch das Klingelschild des Malers Daniel Richter. Im Hintergrund lief von Rainald Goetz zusammengestellte Popmusik, und als viele schon gegangen waren, hörte man den in hitzige Gespräche verwickelten Rainald Goetz aus einer Ecke freudig rufen: „Das Buch ist da – endlich!“ Die Lieferung hatte last minute tatsächlich noch den Weg über die Autobahn gefunden und konnte nun an ausgewählte Gäste verteilt werden.