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Archiv-Artikel

Krümel in der Konfliktzone

TRAGÖDIE Sterben und sterben lassen: Die georgische Autorin Tamta Melaschwili erzählt in ihrem Roman „Abzählen“ von der Normalität für zwei dreizehnjährige Mädchen im Krieg

Der Schwülstigkeitsfalle entgeht Tamta Melaschwili durch einen staccatoartigen Sprachstil

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ lautet der Titel eines Buches aus dem Jahr 1985, mit dem die weißrussische Autorin Swetlana Aleksijewitsch schlagartig berühmt wurde. Auf der Grundlage von Hunderten Interviews mit Frauen, die im Zweiten Weltkrieg aktiv waren, wird hier eine ganz andere Sichtweise dokumentiert als jene, die Kriege vor allem als männliches Handlungsfeld begreift und im Sinne eines Heldenmythos entsprechend verklärt.

Um das Leben im und mit dem Krieg aus weiblicher Perspektive geht es auch in dem Debütroman „Abzählen“ der georgischen Schriftstellerin Tamta Melaschwili. Erzählt wird die Geschichte der beiden 13-jährigen Freundinnen Ninzo und Ketewan, genannt Zknapa, was so viel wie Knirps oder Krümel bedeutet. Sie leben in einer nicht näher bezeichneten Konfliktzone mit Kindern, Alten und Invaliden – denjenigen, die übrig geblieben sind. Krankheit, Tod, Hunger, verminte Felder, Militärflugzeuge, Angst und Hoffnungslosigkeit sind Alltag. Gesetze aus Friedenszeiten sind außer Kraft gesetzt, und das Übertreten der jetzt gültigen Regeln kann tödlich sein.

Ninzo hat als einzige Verwandte eine Großmutter zu Hause, die im Sterben liegt. Zknapa eine Mutter, die sterben will, weil sie ihren kleinen Sohn nicht stillen kann und dessen langsames Sterben nicht länger erträgt. Normalität für die beiden (und ihre Altersgenossen) ist, in einer Schlucht eine verwesende Leiche zu begaffen, die niemand beerdigen will, und zuzusehen, wie verzweifelte Frauen die Kleidung ihrer gefallenen Männer und Söhne verbrennen. Im Kampf um das tägliche Überleben dringen die beiden in Geschäfte und verwaiste Häuser ein, um zu stehlen, schmuggeln Drogen und täuschen an einem Kontrollpunkt einen epileptischen Anfall vor, um bei ihrem Kurierdienst nicht erwischt zu werden.

Doch nicht nur der Krieg ist Normalität. Da ist auch die erste Menstruation, die Größe der Brüste und die Wirkung auf Männer, die Ninzo schon mal gezielt einsetzt, um eine Packung Zigaretten zu ergattern. Wer über die großen und kleinen Tragödien des menschlichen Daseins berichtet, verfällt leicht in Schwülstigkeit und Pathos. Dieser Falle entgeht Melaschwili durch einen besonderen, staccatoartigen Sprachstil. Er schafft Distanz, verleiht dem Text Tempo und dem Erzählten Allgemeingültigkeit. Darauf kommt es der 31-Jährigen auch an. In einer Nachbemerkung schreibt sie: „Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass die Tragödie, wie sie in ‚Abzählen‘ geschieht, überall passieren kann: in Georgien, Kosovo oder Ruanda.“ Das ist ihr gelungen.

BARBARA OERTEL

Tamta Melaschwili: „Abzählen“. Aus dem Georgischen von Natia Mikeladse-Bachsoliani. Unionsverlag, Zürich 2012, 120 Seiten, 16,95 Euro