: „Wer schnattert, kriegt nichts mit“
KULINARIK Warum sind die Deutschen beim Essen so kleinbürgerlich und ungebildet? Ist 1968 schuld? Ein Gespräch mit Jürgen Dollase, Deutschlands einflussreichstem Gastronomiekritiker
■ Der Mann: Jürgen Dollase war Rockmusiker und ist heute Gastrokritiker. Er hat mit seiner Konzeption („Neue deutsche Küche“) modernen kreativen Köchen die Freiheit geschaffen, sich von der französischen Küche zu emanzipieren.
■ Der Werdegang: Dollase, 65, ist der Sohn eines Schulrektors. Er studierte Kunst, Musik und Philosophie. 1971 gründete er die Progrock-Band Wallenstein (Alben: „Blitzkrieg“, „Mother Universe“ u. a.). 1979 landete er einen echten Pophit („Charline“). Danach wurde er Maler. Seit 1999 ist er Gastrokolumnist der FAZ. Er lebt in Mönchengladbach mit seiner Frau Bärbel, einer Kunstlehrerin.
■ Das Werk: „Kulinarische Intelligenz“ (Tre Torri-Verlag). „Neue Koalitionen“: in Kursbuch 174. Wallenstein, „Charline“, auf YouTube: bit.ly/17DRE2D. Dollase ist der Keyboarder, trägt rotes Jacket und das Brusthaar frei.
GESPRÄCH PETER UNFRIED
An einem trüben Spätherbsttag sitzen Bärbel und Jürgen Dollase zur Mittagszeit in der Küche des Düsseldorfer Restaurants U. vor je einem Glas Wasser. Am Herd steht Spitzenkoch Bastian Falkenroth und bereitet den Abend vor. Das U. öffnet erst um 19 Uhr. Die Dollases schätzen Falkenroths kreative Küche. Dollase reist und testet als Kritiker stets in Begleitung seiner Frau – und Hund Sophie. Bärbel Dollase hat seine Entwicklung vom ruinösen Rock-’n’-Roll-und-Roth-Händle-Leben zum intellektuellen Essphilosophen entscheidend beeinflusst. Am Gespräch teilnehmen will sie nicht.
sonntaz: Herr Dollase, ich kenne Goethe, Dutschke, das Werk von Neil Young, lese „ New Yorker“ und den Bericht des Weltklimarats. Nur über Essen weiß ich nichts. Was läuft schief?
Jürgen Dollase: Die soziale Rückkopplung scheint in diesem Bereich komplett zu fehlen. Bei Umweltverschmutzung reagiert man in Deutschland hysterisch. Aber die Verkopplung von Essen und Gesellschaft haben wir noch nicht verstanden. Das betrifft gerade auch die Intellektuellen. Wenn man aggressiv wäre, müsste man sagen: Schlecht essen ist wie sich nicht waschen.
Warum?
Essen ist einer der wenigen Bereiche, der alle Menschen von morgens bis abends betrifft und der einen riesigen Rattenschwanz von Folgen hinter sich herzieht, von der Gesundheit und dem psychischen Wohlbefinden bis hin zur Gestaltung unserer Städte. Es gibt Kleinstädte, da ist kein Restaurant mehr in der Mitte, ganz anders als etwa in Italien. Wer da Essen zur Geschmacksache erklärt oder zur Privatsache, der hat die Zusammenhänge nicht erkannt.
Sind Gesellschaften, die mehr fürs Essen ausgeben, auch kultivierter?
Strukturell im Grunde ja. Es ist aber die Frage, ob die gesteigerte Sensibilität in einem kulturellen Bereich auch in andere transferiert werden kann. Wenn man keine Wertigkeiten entwickelt hat, ist das eine Frage des Nichtbewusstseins mit antikulturellen Folgen. Denken Sie an den Slogan: Currywurst ist SPD.
Currywurst gilt als volksnah.
Im Grunde müsste man sich bei so einem Slogan sofort wegdrehen und sagen: Das sind keine Leute, denen wir das Land anvertrauen können. Unter den Politikern gibt es durchaus Gourmets, auch aufseiten der Grünen. Aber meistens keine bekennenden.
Die Grünen sind auch in der Falle: Verdammen sie Massentierhaltung …
… dient es ihnen …
… feiern sie das gute Essen …
… ist sofort Feierabend, weil ihr Publikum oft eine Anti-Genuss-Weltsicht für die Lösung aller Probleme hält. Tatsächlich ist es umgekehrt.
Immerhin steht die Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht zu ihrer Vorliebe für Hummer.
Ich kann nur hoffen, dass es ein frischer Hummer ist. In Deutschland einen Hummer zu essen, ist kulinarisch ein Problem. In Frankreich müssen Restaurants an der Küste ein eigenes Becken für ihre Hummer haben. Sie können dort auch männliche und weibliche Hummer am Geschmack unterscheiden.
Was unterscheidet Hummerfrau vom Hummermann?
Der männliche Hummer schmeckt etwas speckiger, der weibliche etwas nussiger. Solche Unterscheidungen sind bei den schlappen Halbleichen nicht möglich, die in Holzwollekisten in Deutschland ankommen. Man sollte die guten Sachen dort essen, wo sie herkommen, und sie nicht in die Welt verfrachten. Dazu braucht man kein ökologisches Bewusstsein, dafür reicht das kulinarische völlig aus.
Wer jedenfalls in gutes Essen und Trinken investiert, wird gern als asozialer Schnösel abgewertet, etwa Ex-SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück.
Lassen Sie mich ein Erlebnis dagegenstellen, das ich in einem der besten französischen Käsegeschäfte hatte, Olivier in Boulogne. Da kommt eine Frau und kauft sehr viel Käse ein. Der Chef sagte dazu: Sie hat überhaupt kein Geld, aber einmal im Monat kauft sie groß ein, weil sie sagt: Diese Form der Kultur muss ich einfach erhalten.
Deutsche sind kulturell und politisch darauf konditioniert, ihr Geld großzügig für Autos, aber möglichst knapp für Essen auszugeben.
Wir müssen uns klar sein: Wer sagt, dass Leute mehr Geld für Essen ausgeben sollen, muss sagen, wo sie es weniger ausgeben. Aber – das Verteidigen der eigenen kulinarischen Position ist in Deutschland extrem ausgeprägt. Nichts löst größere Aggressionen aus, als wenn sie den Leuten irgendetwas rund um ihr Essen madig machen. Das hängt an der sozialen Definition des Essens als Privatsache. Man muss verstehen, dass das kognitiv nicht zu verändern ist. Man muss das über die Sensibilisierung machen.
Sie waren als Rockmusiker bis 35 komplett auf Fastfood fixiert. Wie haben Sie sich aus Ihrer kulinarischen Unfreiheit befreit?
Der Antrieb war meine Frau. Es war mir irgendwann peinlich, dass wir in Paris rumliefen, sie wollte gern ein Restaurant ausprobieren und ich konnte nicht reingehen, weil mir schon schlecht wurde, wenn ich nur an eine Garnele dachte. Garnelen waren für mich wie Regenwürmer. Als ich das erste Mal in der Bretagne vor einem Teller mit Austern saß, würgte es mich.
Wie überwindet man das?
Ich war in einem Zustand, in dem ich dachte: Das geht so nicht. Wie kann man nur solche Probleme haben? Ich habe mir dann Schritt für Schritt die Freiheit entwickelt, erst mal alles in den Mund zu stecken. Das klingt banal, ist aber vermutlich für 80 Prozent der Bevölkerung ein großes Problem. Es ist erstaunlich, was einen kognitiv alles abhält, bestimmte Sachen zu essen. Das fängt beim Lesen der Speisekarte an. Dann die Optik, der Geruch, das Wahrnehmen einer Textur, wenn es zum Beispiel schwabbelt.
Wie haben Sie es geschafft, für Essen deutlich mehr Geld auszugeben?
Man kann erst mal im Genusssektor umverteilen: Weniger Alkohol und Zigaretten. Meine Frau und ich haben am Anfang mit dem Rauchen aufgehört und das Geld in eine Sparbüchse getan. Das war unser Etat, davon gingen wir essen. Einen Etat gibt man einfach leichter aus, das weiß man ja von öffentlichen Einrichtungen.
Die Spitzenküche wird in Deutschland gern als Distinktionsgehabe von Reichen verstanden.
Es ist sehr problematisch, die ganze bessere Küche in Deutschland ausschließlich mit dem zahlenden Publikum zu verknüpfen. Im Grunde hat die Spitzenküche das falsche Publikum. Das hat sogar Folgen für das, was gekocht wird.
Inwiefern?
Ein bestimmtes Publikum will nichts Konkretes auf dem Teller haben. Nicht nur in Form von ganzen Wachteln oder Tauben, sondern auch in Form von Geschmack. Daher rührt die Popularität von im Grunde ziemlich perversen Dingen wie Milchlamm oder Spanferkel U5, unter fünf Kilo. Es schmeckt nach nichts. Es schmeckt nur zart und neutral, aber nicht nach Lamm oder Schwein. Und – gerade die ganz Reichen sind oft Freunde der bürgerlichen Küche, die haben das Sitzfleisch nicht für ein zwanziggängiges Menü bei Joachim Wissler …
… Deutschlands höchstdekorierter Koch, der im Restaurant Vendôme im Grandhotel Schloss Bensberg kocht.
Wenn denen etwas aus der kreativen Küche vorgesetzt wird, was sie nicht kennen, dann stehen die auf und gehen. Man muss von seinem Ego und seinen Vorlieben runterkommen und eine Form der Demut vor dem Essen und der Leistung der Köche haben, sonst kann man das nicht genießen.
Wie unterscheiden Sie die bürgerliche von der kreativen Küche?
Identifizierbarkeit, große Portionen, gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und vor allem nichts Neues: Das sind die Kriterien bürgerlicher Küche, auch der bürgerlichen Gourmetküche. Die kreative Küche weicht davon erheblich ab. Das Problem ist, dass die kreative Küche im falschen Gehäuse groß geworden ist, nämlich im System der gehobenen Küche. Aber Luxuspublikum und kreative Küche passen oft nicht zusammen. Die Frage ist: Welches ist das Publikum für die kreative Küche? Das ist noch unklar.
In den Mittelschichtslokalen mit Gänge-Menüs essen viele am Ende doch Schnitzel statt Schnickschnack. Ich zum Beispiel. Ist das kleinbürgerlich?
Kleinbürgerlich finde ich vor allem die Abwehrmechanismen. Warum regen sich die Leute auf, wenn es irgendwo weitergeht? Warum fühlen sie sich unwohl oder belehrt? Das sind hysterische Reaktionen.
Auch im Spitzenlokal Borchardt essen Promis meist Schnitzel.
Das sind bildungsferne Esser. Redundanzesser.
Was sind Redundanzesser?
Bei Adornos Einführung in die Musiksoziologie gibt es Hörertypen und einer ist der Redundanzhörer. Das kann man eins zu eins auf Esser übertragen. Das ist der Esser, der immer das Gleiche essen will. Man kann Adorno weiterdenken: Diese Art zu essen ist zutiefst kleinbürgerlich und letztlich für Leute, die gern in autoritären Systemen leben, wo sie wissen, ich mache das Richtige.
In allen Schichten überwiegt kulinarische Bildungsferne?
Ja, der bildungsferne Esser ist ein schichtübergreifendes Problem. Er begegnet mir als abgemilderte Toskana-Fraktion, im bayerischen Traditionalisten, auch in den obersten Etagen. Alles Leute, die in anderen Bereichen äußerst penibel auf Qualität achten und beim Essen den ganzen Müll in sich hineinstopfen. Erstaunlich. Wir alle sind Produkt industrieller Manipulation, wir sind Sklaven eines industriellen Geschmacks, wir haben erst einmal keine Freiheit auf diesem Gebiet, sondern müssen sie uns erobern.
Wir sind ein einig Volk von Kleinbürgern?
Ich sage immer: Beim Essen benehmen sich französische Kleinbürger wie Weltbürger. Und Deutsche denken viel mehr als sonst kleinbürgerlich.
Warum wehren wie uns nicht gegen unsere kulinarische Unfreiheit?
Sich seine kulinarische Freiheit zu erarbeiten, gehört zu den anstrengenderen kulturellen Tätigkeiten. Das kann jeder überprüfen, wenn er die Liste seiner No-Gos durchgeht: Wieso habe ich mit Fett Probleme oder mit dem Schwabbeligen? Man kommt auf merkwürdige Ergebnisse. Es ist ein Chaos. Wir sind nicht Herren dieses Chaos, und die Versuche, das Chaos zu ordnen, sei es von Slowfood oder den Grünen, funktionieren meistens auch noch nicht besonders gut.
Warum wird Essen in Politik und Medien hauptsächlich über das Gefährdungspotenzial betrachtet?
Wir sind ein Aufklärungsland und haben das entsprechende Aufklärungsbusiness, das sind historisch notwendig gewordene Reaktionen. Das Problem ist, dass wir im kulinarischen Bereich nur einseitig aufklären. Wir diskutieren beim Essen hauptsächlich giftige Inhaltsstoffe oder Umweltverschmutzung. Dabei sind diese Stoffe vermutlich noch weniger gefährlich als unsere tägliche Nahrungsaufnahme. Die bringt nämlich täglich Tausende in die Erde. Dieses Gefährdungspotenzial wird nicht gesehen, weil nichts sanktioniert wird. Wenn sie bei Krankheitskosten das Verursacherprinzip einführen würden, hätten wir ein großes Problem.
Ein heikles Thema.
In der Tat. Wenn Sie über Nahrungsmittelgefährdung aufklären, sind wir alle betroffen, aber etwas distanziert. Wenn Sie über schlechtes, fettes Essen aufklären, geht es ans Eingemachte. Deshalb setze ich nicht auf Wertung, sondern auf Sensibilisierung. Es geht darum, in einem neuen Sinne sinnlich zu werden, die kulinarische Emanzipation ist ein wichtiger Schlüssel für die Entwicklung zivilisierter Länder.
Kulinarische Emanzipation ist nicht der elitäre Gegensatz zur Currywurst-Volksküche?
Zum einen haben wir keine Volksküche mehr, sondern im Prinzip eine industrielle Manipulation. Punkt. Zum zweiten ist der Zugang zum Kulinarischen ein demokratischer durch und durch. In den anderen Künsten haben wir diesen Zugang kaum noch. Beim Essen ist das noch möglich. Die Sensibilisierung muss nichts mit schichtenspezifischem Verhalten zu tun haben. Wir müssen keine Intellektuellen sein, um Essen wahrzunehmen.
Heißt konkret?
Es ist ein grundlegender Fehler, zu sehr über den kognitiven Bereich zu gehen. Wir brauchen direkte sensorische Erfahrungen, unmittelbar rückgekoppelt an die eigene Person. Was passiert da mit mir, muss man auch mal fragen, wenn ich ein schwabbeliges Stück Schweinefett esse? Das schmeckt eigentlich wunderbar, mild, nussig, es ist nur ein bisschen schwabbelig.
Wo ist der Demokratiezuwachs?
Das alte System war elitär. Nur Experten, also Leute, die schon Hunderte Foie gras gegessen hatten, durften sagen, was eine gute Foie gras ist. Mein System ist offen und rückgekoppelt, es muss an den Menschen ran, an die eigentliche Wahrnehmung. Das hat Konsequenzen. Wenn wir die Sensibilisierung anstreben und nicht Politisierung durch Gefährdungspotenzial, dann wird klar, wo wir ansetzen müssen: in den Schulen, mit Ernährungslehre und Genussschulung statt Gefährdungslehre. Essen ist dann womöglich sogar Hauptfach Nummer 1.
Großes Kulinarium statt großes Latinum?
Bitte: Man muss erkennen, wie umfassend die soziale Rückkopplung des Essens ist. Wenn wir über die positiven Sachen des Zusammenhangs reden, dann wird die kulinarische Kenntnis zu dem großen Faktor in den zivilisierten Ländern.
Wie funktioniert die Sensibilisierung jenseits der Schule? Wie komme ich aus meinem Schnitzelgefängnis hin zu kulinarischer Intelligenz?
Nutzen Sie den Gruppendruck. Veranstalten Sie etwa Essen im Freundeskreis, bei denen jeder das mitbringt, was er nicht mag.
Was ist der soziale Faktor der kulinarische Emanzipation?
Die Sensibilisierung in dem einen Bereich bringt einen Transfer in andere mit sich. Wer sensibilisiert ist für gutes Fleisch und gute Produktionsbedingungen, wird kaum noch industrielle Auswüchse wie Massentierhaltung erdulden können. Oder eine Versteppung osteuropäischer Gegenden, damit wir hier Bio essen können – immer nach dem Motto: Nach uns die Sintflut! Die positiven Effekte reichen bis zu einer simplen Entwicklung: Man würde schlicht weniger essen. Mich würde einmal interessieren, wie viel Geld wir für Entwicklungshilfe sparen könnten, wenn wir nur die Mengen essen, die sinnvoll sind.
Könnte ein fleischfreier Tag die politische und die kulinarische Entwicklung verknüpfen?
Vorschriften über das korrekte Leben, auch der fleischfreie Tag der Grünen, das ist in der Tradition von Systemen, die bis ins Detail regulieren.
Ist ein Leben ohne Fleisch für Sie vorstellbar?
Im Prinzip können wir auf Fleisch verzichten. Kein Foie gras mehr wäre ein kultureller Verlust, aber bitte. Kulinarisch machen wir dann halt mit Gemüse weiter. Ein Problem wird es, wenn das als Ja-Nein-Entscheidung daherkommt. Das ist nie hilfreich.
Wie bringen Sie Entenstopfleber und kulinarisch verantwortungsbewusstes Verhalten zusammen?
Man ist schon dabei. Es wird heute oft ungestopfte Fettleber verwendet. In meinen Augen hat das auch noch den Vorteil, dass sie weniger nach Mais und Getreide und mehr nach Ente schmeckt.
Regionalküche und regionale Produkte sind Fortschritt?
Wir waren gerade in Österreich und Bayern, wo viel mehr über regionale Küche berichtet wird als anderswo. Es gibt aber eine Tendenz, die das Bestehende bestärkt und jede andere Form der Küche ausschließt. So eine Verabsolutierung halte ich für problematisch. Kulinarische Freiheit sieht anders aus.
Bio- und Regionalisierung sind demnach keine erstrebenswerte Entwicklung?
Doch, aber die Mechanismen dürfen nicht im Grunde gleich bleiben. Man macht denselben Mist wie immer, nur politisch korrekt. Das ist kein erstrebenswertes Ziel, das würde die Sensibilisierung stoppen. Wenn wir sagen: Wir bleiben bei Pommes, aber es müssen Biokartoffeln sein, dann knipsen wir einen großen Bereich aus. Für die Gesamtgesellschaft geht es grundsätzlich darum, Werte rückzukoppeln, auch kulinarische Werte, und die speziell unbedingt offen zu halten. Die sind nicht immer gleich, die können sich ändern.
Der Sache muss eine andere Richtung gegeben werden. Das sag ich doch, da fängt es doch an, beim Salatkopf, da fängt es an
JOSEPH BEUYS, KÜNSTLER
Das schlechte Gewissen beim Genuss gehört zu den Eigenschaften, die hierzulande als Tugend angesehen werden
WOLFRAM SIEBECK, GASTROKRITIKER
Essen muss als eine der wichtigsten ethischen Angelegenheiten, mit denen wir konfrontiert sind, wahrgenommen werden
PETER SINGER, PHILOSOPH
Herr Dollase, Sie sind Jahrgang 1948. Sind Sie 68er?
69er. Ich war bei der hippiemäßigen, psychedelischen Fraktion. Aber 1968 auf der Straße? Nein, da war ich beim Bundesgrenzschutz und habe meine Militärzeit abgeleistet.
Die Revolution von 68 war gesellschaftlich, kulturell und sexuell …
… aber die kulinarische Revolution haben sie leider vergessen.
Die 68er wollten den Reichen die Austern wegnehmen.
Die Austern liegen am Strand in der Bretagne deutlich unter dem Preis von Hamburgern. Das ist hier als Luxuskonsum in einer Schickimickiszene gelandet.
Warum hat man 1968 die kulinarische Emanzipation vergessen?
Es gab schon eine Entwicklung, dazu gehörte das gemütliche französische Bistro mit Wein und Brot, aber das war eine bloße Möblierung der 68er Existenz. Und dann ist man bei diesem Lifestyle hängen geblieben. Diesen Effekt gibt es auch in der Rockmusik.
Leute, die sagen, dass seit „Exile on Main St.“ von den Rolling Stones keine ordentliche Platte mehr erschienen sei?
Ich nenne es den Peggy-Guggenheim-Effekt. Sie sagte: Nach Picasso kann nur noch Müll kommen. Die 68er haben installiert: Gemütlichkeit, Gemeinschaft, Weine mit ästhetisch anspruchsvollem Etikett. Essen als Entspannung von den harten Straßenkämpfen. Und dabei gemütlich schnattern. Davon sind die leider nie mehr weggekommen. Die wenigsten 68er sind Gourmets.
Sprechen Sie mit Ihrer Frau beim Essen nicht?
Wenn man beim Essen über irgendetwas weiterschnattert, kriegt man vom Essen nichts mit. Man kann nicht gleichzeitig denken und konzentriert essen. Da könnten Sie gleich Pappe essen. Wir reden, aber nur zwischendurch oder über das Essen selbst.
Was reden Sie denn konkret?
Nun, wir sind ja Spezialisten. Das läuft in abstrakten Kürzeln, die wohl nicht alle gleich verstehen würden.
Dennoch ein Beispiel?
Vielleicht … Ich finde die aromatischen Punkte etwas dicklich, er stellt einfach die Räume zu, und dann haben wir auch noch bei den Kräutern Verkürzungen.
Sie waren in den 70ern mit der Band Wallenstein erfolgreich. Warum haben Sie die Rockmusik überhaupt aufgegeben?
Ich hatte beschlossen, dass ich mit 40 keine Musik mehr mache.
Das hatten die anderen auch. Die sind immer noch am Werk. Aber das sieht auch nicht gut aus.
Hat Sie Ihre kulinarische Emanzipation zu einem besseren Menschen gemacht?
Hm …
Zu einem anderen Menschen?
Zweifellos. Die Abneigung gegenüber dem Groben steigt, je mehr man sich mit dem Feinen befasst. Das ist bei der Architektur oder in anderen Bereichen auch so. Man hat mir immer vorgeworfen, ich wolle das Kulinarische mit der Kunst gleichsetzen. Völlig falsch.
Richtig ist?
Die Kochkunst ist die Beste aller Künste. Weil sie potenziell bis in die Mitte der Gesellschaft wirken kann. Etwa, wenn man bestimmte industrielle Fertigungsmethoden abschaffen würde. Die Spitzenküche ist noch nicht im Elfenbeinturm. Was dort geleistet werden kann, trägt zur Verbesserung von Bereichen bei, an die heute kaum jemand denkt. Das kann die bildende Kunst oder klassische Musik kaum von sich behaupten.
■ Peter Unfried, 50, ist taz-Chefreporter. Er aß noch nie Hummer