: „Es gibt glückliche Schurken“
UNMORAL Jeder redet von Moral, kaum einer vom Gegenteil. Ein Gespräch mit dem Philosophen Arnd Pollmann über Schwarzfahrer, Stinkstiefel und Strafen
■ promovierte zum Thema „Integrität“, war Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestags und ist Assistent am Lehrstuhl für Praktische Philosophie in Frankfurt a. M. Foto: C. H. Beck
taz: Herr Pollmann, wann haben Sie zuletzt unmoralisch gehandelt?
Arnd Pollmann: Gestern. Ich bin schwarzgefahren.
Ist Schwarzfahren schon unmoralisch?
Die Moralphilosophie spricht hier vom „Trittbrettfahrer“: Die Person zehrt parasitär von einen Regelwerk, das funktionieren muss, um es ausnutzen zu können. Schwarzfahren ist ja nur möglich, wenn andere regelmäßig bezahlen. Sonst kommt die U-Bahn erst gar nicht aus dem Depot. Wenn die BVG die Preise erhöht, haben jene, die sich eine Monatskarte kaufen, einen – zugegeben – minimalen Schaden. Am Ende läppert sich das.
Wie viel Unmoral braucht der Mensch für ein erfülltes Leben?
Es macht manchmal Spaß, sich so richtig schön unmoralisch zu verhalten. Auch gibt es so etwas wie glückliche Schurken. Aber sobald Sie selbst Opfer unmoralischer Taten werden, sehen Sie das anders. Dennoch sollte sich die Moral und auch die Moralphilosophie vor der rigoristischen Forderung hüten, ein glückliches Leben sei ein moralisch gutes Leben. Glück und Moral vertragen sich eher selten.
Muss daher die Gesellschaft Unmoral bestrafen?
Negative Sanktionen und das Prinzip der Strafe mögen allgemein sehr unpopulär geworden sein. Doch man wird nicht um sie herumkommen, solange es echte Stinkstiefel gibt.
Berechtigte Strafe setzt den freien Willen des Handelnden voraus. Dieser steht aber aktuell in Philosophie und Neuropsychologie zur Debatte.
Will man den Abgesängen auf die Willensfreiheit glauben, so ginge mit der Verantwortung der Täter auch deren Schuld verloren. Doch man muss den ganz gewöhnlichen Missetätern des Alltags, von denen mein Buch handelt, nur einmal tief in die Augen schauen. Oder man blickt kurz in die eigenen Abgründe: An den betreffenden Forschungsergebnissen der Hirnforschung kann irgendetwas nicht stimmen. Insofern ist das Buch auch ein Plädoyer für die Freiheit. Denn Freiheit bedeutet immer auch das Freisein zur Unmoral und sogar zum Bösen. Ohne Freiheit gibt es das Böse nicht. Das Böse aber gibt es, auch wenn es bisweilen in geradezu banaler Gestalt auftritt.
Moralvorstellungen sind fließend. Werden die gegenwärtigen Moralvorstellungen von Dauer sein?
Historisch betrachtet, mögen es die jeweils hegemonialen Kräfte aus egoistischen oder ideologischen Motiven mit der Moral sehr unterschiedlich gehalten haben: Sklaverei, Antisemitismus, Fremdenhass und die Unterdrückung von Frauen sind nur die auffälligsten Beispiele. Doch auch in Ländern, in denen es die Todesstrafe oder Folter gibt, sind Tötungsdelikte oder Folterungen nicht allgemein anerkannt.
Sie gehen also von einem moralischen Kanon aus, auf den sich letztlich alle einigen können?
Egal, woher Sie kommen, welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe Sie sind oder welche politischen und religiösen Auffassungen Sie vertreten: Betrug, Ausbeutung, Zwang oder Folter fühlen sich vergleichsweise ähnlich an. Um aber Ihr Bild vom Kanon musikalisch aufzugreifen: Im Chor der Opfer gibt es keine Dissonanzen, wie der Völkerrechtler Eckart Klein sagte. Es sind die artikulierten Erfahrungen der Geschädigten, die zu einer Verständigung über Moral beitragen.
Wenn Moral auf der Konfrontation mit Unmoral basiert, kann auf vernünftige Weise unmoralisch gehandelt werden?Nein, das schließt sich logisch aus. Aber es gibt unmoralische Taten, die zu entschuldigen oder zu rechtfertigen sind: Sie lügen, um einen anderen Menschen vor gravierendem Schaden zu bewahren. Und im Extremfall töten Sie sogar, um den Wunsch einer Patientin nach einem menschenwürdigen Sterben gerecht zu werden. INTERVIEW: TOBIAS NOLTE
■ Arnd Pollmann: „Unmoral. Ein philosophisches Handbuch. Von Ausbeutung bis Zwang“. C. H.Beck, München 2010, 300 S., 14,95 Euro