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Archiv-Artikel

Bis zu 700 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken

MIGRANTEN Serie von Unglücken auf hoher See wirft ein Schlaglicht auf die brutalen Methoden der Menschenschmuggler in Nordafrika

„Die Migranten wollen in Europa arbeiten, also sollte Europa uns als Partner sehen“

AYOOB QASSEM, MARINESPRECHER

VON MIRCO KEILBERTH

BERLIN taz | Vor den baldigen Herbststürmen machen sich derzeit Dutzende Schmuggler-Boote von der 2.000 Kilometer langen libyschen Küste oder von Ägypten aus auf den Weg nach Europa. Die gefährliche Reise endet für viele Flüchtlinge tödlich – so auch für bis zu 700 Personen, die in den vergangenen Tagen ertrunken sein sollen.

Wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) am Montag in Rom unter Berufung auf zwei Zeugen berichtete, wurde ein Flüchtlingsboot mit 500 Insassen vermutlich von Schmugglern versenkt. Nach Angaben der Website der Zeitung Corriere della Sera war das Schiff am 6. September von Ägypten aus in See gestochen mit etwa 500 Personen aus Syrien, Palästina, Ägypten und Sudan an Bord. Mehrfach hätten die Schlepper die Leute umsteigen lassen; als sie wiederum die Passagiere auf ein kleineres Boot verfrachten wollten, sei es zu einem heftigen Streit gekommen, da die Flüchtlinge die Operation verweigerten. Daraufhin hätten die Schlepper das Boot gerammt und zum Kentern gebracht.

Gerettet wurden zwei Palästinenser aus dem Gazastreifen, von denen diese Angaben stammen. Zudem meldet Corriere della Sera, griechische und maltesische Schiffe hätten weitere neun Personen gerettet, während die anderen rund 500 höchstwahrscheinlich ertrunken seien. Nach Angaben der palästinensischen Nachrichtenagentur Maan ertranken außerdem 15 Palästinenser vor der ägyptischen Küste, als ein anderes Boot auf einen Felsen auflief und kenterte. 72 Personen konnten demnach gerettet werden. Maan gab als Quelle ägyptische Militärkreise an.

Auch vor der libyschen Küste kam es am Sonntag zu einem schweren Unglück, als ein Boot mit über 250 Flüchtlingen unweit der Hauptstadt Tripolis sank. Die Küstenwache konnte nur 26 der meist aus Zentralafrika stammenden Verunglückten lebend bergen. Anwohner des Vorortes Tajoura berichteten gegenüber der taz von zahlreichen im Wasser treibenden Leichen.

Libyens Marinesprecher Ayoob Qassem begründet die vielen Toten mit der veralteten Ausrüstung der libyschen Patrouillenboote und fordert die europäischen Länder auf, bei Ausstattung und Ausbildung endlich massiv zu helfen: „Die meisten Migranten wollen in Europa arbeiten, also sollte Europa uns endlich als Partner sehen.“

Die libysche Küstenwache existiert in vielen Häfen nur noch auf dem Papier. Während des Nato-Krieges gegen Gaddafi vor drei Jahren wurden allein im Hafen von Tripolis sechs Fregatten von Lenkraketen zerstört. Nun ersetzen von Italien gelieferte Gummi-Schnellboote und Fischtrawler seetüchtige Schiffe, während die Schmugglerbanden mit Hilfe italienischer Krimineller aufrüsten.

Bürgerkriegsflüchtlinge und Arbeitssuchende aus Afrika kommen seit Ende des Libyen-Krieges hauptsächlich über libysche Oasen- und Küstenstädte nach Europa. Während in Tunesien und Algerien Polizei und Armee die meist aus Zentral- und Westafrika stammenden Menschen rigoros zurückschicken, haben viele libysche Milizen aus dem Flüchtlingsandrang ein Geschäftsmodel entwickelt. An Kontrollstellen fordern sie Geld, in Auffanglagern werden Migranten gezwungen, so lange zu arbeiten, bis sie sich ihre Freiheit erkaufen können.

Die EU versucht seit 2013 mit der Grenzschutzmission Eubam den libyschen Behörden zu helfen. Doch die Befehlskette der libyschen Armee ist oft unklar, Zollbeamte sind häufig nur ihrer Heimatstadt gegenüber loyal. Größter Erfolg der EU-Spezialisten waren verbesserten Kontrollen auf dem internationalen Flughafen von Tripolis, aber die wurden mit dessen Zerstörung durch Milizionäre aus Misrata zunichte gemacht. Eubam wurde inzwischen nach Malta verlegt.

„Die EU muss ihr Engagement völlig neu überdenken“, fordert Beshir Shehab, Chef des Lokalrates von Ghadames. Die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärte Wüstenoase liegt im Dreiländereck von Libyen, Algerien und Tunesien. 3.000 Flüchtlinge hoffen dort zurzeit auf die Weiterfahrt ans Mittelmeer. Offiziell haben seit Mai 30.000 Flüchtlinge und Migranten die libyschen Südgrenzen nach Norden überquert. Die Tausenden auf den Straßen libyscher Städte lebenden ausländischen Männer lassen eine Zahl von über 100.000 realistischer erscheinen.

Mitarbeit: Michael Braun (Rom), Beate Seel