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Archiv-Artikel

Arme Stieftochter Übersetzungskritik

SPRACHTRANSFER Die deutschen Übersetzer fühlen sich offenbar von der Literaturkritik missachtet. Zu Recht?

Die Literaturkritik sei naiv, heißt es. Und sie habe die Sprachkritik zugunsten der Inhaltsangabe abgeschafft

VON KATHARINA GRANZIN

Ist es eigentlich egal, ob das Buch, das man gerade liest, im Original Deutsch geschrieben oder aus einer anderen Sprache übersetzt wurde? Natürlich nicht. Schließlich weiß man, dass ein übersetztes Buch niemals das genaue Abbild seines Originals sein kann, sondern immer nur eine Annäherung ist. Einerseits. Andererseits will man beim Lesen keinesfalls daran erinnert werden. Ein übersetztes Buch muss ebenso gut funktionieren wie ein original Deutsch geschriebener Text. Denn ein ins Deutsche übersetzter Text ist ein deutscher Text. Und als solcher ist er auch das Werk der Übersetzerin oder des Übersetzers.

Diese Tatsache geht in der öffentlichen Wahrnehmung häufig unter. Und da literarische ÜbersetzerInnen in der Regel schrecklich unterbezahlt sind, schmerzt es um so mehr, wenn auch noch die Anerkennung ausfällt. Oft wird die Übersetzerleistung, so scheint es zumindest, nicht einmal von den professionellen LeserInnen, den KritikerInnen, auch nur wahrgenommen. Eine eingehendere Analyse der Übersetzung im Rahmen einer Literaturkritik ist sehr selten, selbst eine kurze Erwähnung nicht die Regel.

Auf einem kürzlich vom Literaturhaus München veranstalteten Symposium hielt der Kritiker und Autor Burkhard Müller einen Vortrag zum Thema, für den er zwei Monate lang die Feuilletons ausgewertet hatte. Über die Hälfte der gefundenen Kritiken übersetzter Werke, so das Ergebnis, lasse die Übersetzung gänzlich unerwähnt. Der Übersetzer Frank Heibert, der auf der Tagung einen Workshop gab, konnte die ernüchternde persönliche Erfahrung beisteuern, dass der Kritiker einer großen deutschen Wochenzeitung in einer ganzseitigen Rezension eines Buches, das Heibert übersetzt hatte, Lobeshymnen speziell für die Sprache fand, ohne auch nur anzumerken, dass es sich um eine Übersetzung handelte.

Das ist bitter. Im Gegenzug gab es auf der Münchner Tagung aber auch für Kritikerohren viel Bitteres zu hören. Die Literaturkritik sei zu naiv, hieß es, sie habe die Sprachkritik, von der Übersetzungskritik ganz zu schweigen, so gut wie abgeschafft und beschränke sich zunehmend auf reine Inhaltsangabe. Die KritikerInnen seien schlecht ausgebildet, FremdsprachenphilologInnen unter ihnen kaum vertreten, es gebe keine Kritikerpersönlichkeiten mehr. Mehrfach wurde die Forderung laut, ein Kritiker, der sich über eine Übersetzung äußere, solle doch bitte zuerst einmal versucht haben, selbst etwas zu übersetzen. Joachim Kalka, der einen historisch orientierten Vortrag zur Sprachkritik des Karl Kraus beigesteuert hatte, belebte die Diskussion mit der Äußerung, ihm persönlich mache es nichts aus, als Übersetzer nicht erwähnt zu werden, denn angesichts des niedrigen Niveaus, auf dem sich die heutige Literaturkritik bewege, sei das auf jeden Fall besser so.

Da scheint eine Beziehung nachhaltig gestört zu sein. Und auch wenn Burkhard Müller betont hatte, Kritiker und Übersetzer seien Geschwister, nämlich darin, dass sie sowohl dem Werk als auch dem Leser gegenüber verpflichtet seien, so musste man insgesamt den Eindruck gewinnen, die Übersetzerzunft sehe sich eher in der Rolle des verkannten Stiefkindes.

Wer ist ärmer dran?

Dabei ist doch die Literaturkritik mitnichten die Stiefmutter, sondern im Verhältnis zur echten, verehrten Mutter Literatur selbst nur ein armes Pflegekind. Im Übrigen ist das Kritikerkind noch deutlich ärmer dran als die im Übersetzerverband organisierten, hervorragend vernetzten übersetzenden Stiefgeschwister, die ja immerhin oft mit Unterstützung aus dem Übersetzerfonds und diversen anderen Töpfen rechnen können. Das Gros der deutschen Kritikerschaft dagegen sitzt nicht in der warmen Redaktionsstube, sondern betreibt sein prekäres Handwerk einsam vom kalten Dachkämmerlein aus. Diese meist hervorragend ausgebildeten, ihren kaum bezahlten Beruf aus schwer erklärlichem Idealismus ausübenden Individuen sind durchaus in der Lage, eine erbrachte Übersetzerleistung wahrzunehmen und, wo es angebracht ist, willens, diese auch schriftlich zu würdigen. Um eine Pflichtübung aber kann und sollte es dabei nicht gehen.

Es gibt Fälle, in denen die Übersetzung ganz selbstverständlich in den Vordergrund rücken muss – vor allem dann, wenn Klassiker neu (im Sinne von „neu und besser“) übersetzt wurden. Die Dostojewski-Übersetzerin Swetlana Geier oder der Tschechow-Übersetzer und unermüdliche Neuentdecker russischer Klassiker Peter Urban sind so, mit freundlicher Hilfe der Feuilletons, zu auch der Leserschaft bekannten Stars ihres Fachs geworden.

Bei deutschen Erstausgaben wiederum ist es dann unabdingbar, die Übersetzung explizit zu würdigen, wenn sich dabei sehr grundsätzliche Probleme gestellt haben. Bei ihrer Besprechung von Richard Price’ Roman „Cash“ zum Beispiel haben zahlreiche KritikerInnen es sich nicht nehmen lassen, nach ausdrücklichem Lob für die Übersetzerin Miriam Mandelkow darauf zu verweisen, dass der angestrebten Äquivalenz der Übersetzung natürliche Grenzen gesetzt waren, da die Vielfalt der Soziolekte, die das amerikanische Englisch bereithält und die im Roman eine so große Rolle spielen, im Deutschen beim besten Willen nicht adäquat wiedergegeben werden können.

In den allermeisten Fällen aber sind die Herausforderungen der Übersetzung, die es ja immer gibt, nicht strukturbestimmend für das ganze Werk und daher nicht zwingend relevant für eine Rezension. Ja, es gibt bessere und schlechtere Übersetzungen. Für eine fachlich gesicherte Würdigung der Übersetzerleistung im Rahmen einer Literaturkritik aber fehlt zum einen oft die faktische Grundlage. So sehr man sich oft wünschte, das Original direkt neben der Übersetzung liegen zu haben, so ist es doch in der Regel nicht so – es ist, ganz schlicht, weder zeitlich noch ökonomisch machbar. Das macht eine angemessene Beurteilung der Übersetzung sehr schwierig. Wer auf reine Mutmaßungen zurückgeworfen ist, sagt oft vielleicht lieber gar nichts, weil man findet, man habe nicht die Berechtigung, sich über etwas zu äußern, das man nicht hat überprüfen können. Ein anderes Mal wieder ist man so angetan von der Sprachgewalt eines Buches, dass man sich nicht zurückhalten kann, die Übersetzung lobend hervorzuheben, obwohl man nicht einmal die Ausgangssprache selbst beherrscht, also auch beim Vergleich mit dem Original gar nicht berechtigt wäre, ein Urteil abzugeben. Und dann gibt es auch jene Momente, in denen man es sich, um, schon des geschätzten Autors wegen, den Erfolg eines Buches nicht zu gefährden, regelrecht verkneift, eine Übersetzung zu kritisieren, die vielleicht ganz anständig, aber nicht wirklich inspiriert ist. Jeder dieser Fälle ist ein kleines Dilemma für sich.

Vielleicht sollten sich die Übersetzer die Putzfrauenhypothese zu eigen machen: „Solange nicht gemeckert wird, ist alles in Ordnung“

Übrigens ist im Vergleich zur schöpferischen Leistung des Autors oder der Autorin die übersetzerische Leistung doch recht sekundär (ja doch, natürlich ist auch das Übersetzen ein kreativer Vorgang!). Zwar kann eine mindere Übersetzerleistung den Erfolg eines Buches behindern, doch müsste man wohl lange suchen, bis man auf einen Fall stieße, wo eine schlechte Übersetzung den Erfolg eines großen Werkes nachweislich verhindert hat. Weder bei Hemingway, dessen Werk aus rechtlichen Gründen zum größten Teil noch immer nicht in einer befriedigenden deutschen Fassung vorliegt, noch bei Dostojewskij, dessen Texte die längste Zeit ebenfalls in so manch fragwürdiger deutschen Variante kursiert haben, ist dies der Fall gewesen. Natürlich kann es umgekehrt auch passieren, dass ein eher bescheidenes Werk, wenn es einem echten Sprachzauberer in die Hände fällt, in der Übersetzung an Glanz gewinnt. Und das merkt dann auch wieder kein Schwein.

Das unlösbare Dilemma

Realistischerweise fahren KritikerInnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten nicht schlecht mit der Arbeitshypothese: „Ein übersetzter Text ist ein deutscher Text.“ Das bedeutet einerseits, die sprachliche Leistung der ÜbersetzerInnen bewusst wahrzunehmen. Andererseits liegt darin eine starke inhaltliche Beschränkung, denn die Frage nach der Adäquatheit der Übersetzung an sich bleibt damit unberücksichtigt. Das Dilemma ist nicht zu lösen. Aber die philologische Feinanalyse am übersetzten Text kann auch nicht wirklich Aufgabe der KulturjournalistInnen sein.

Möglicherweise sollten die ÜbersetzerInnen sich die Putzfrauenhypothese zu eigen machen: „Solange nicht gemeckert wird, ist alles in Ordnung.“ Außerdem können sie sich ja, falls es bei ihrer Forderung nach mehr Übersetzungskritik wirklich um den Wunsch geht, Übersetzungen besser zu machen, innerhalb der eigenen Netzwerke spezialisierte Strukturen dafür schaffen.

Zwischendurch immer wieder zu versuchen, bei den KritikerInnen das Bewusstsein für das Prekäre des Sprachtransfers in der Literatur zu schärfen, kann sicher nicht schaden. Die so nachdrücklich vorgebrachte Forderung nach mehr praktischer Übersetzungskompetenz bei der Kritikerschaft allerdings entbehrt nicht der Komik. Denn wo sollte das hinführen? Nicht nur, dass die überheblichen Stiefgeschwister keine Ahnung vom mühsamen Handwerk des Übersetzens haben. In Wirklichkeit ist alles noch schlimmer: Sie beherrschen ja nicht einmal die Kunst des Romanschreibens.