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Archiv-Artikel

Die atomisierte Revolte

DOKUMENTATION Ein Film von Biene Pilavci und Ayla Gottschlich betrachtet die Situation während der Aufstände in Istanbul 2013 – und nach deren Niederschlagung. In der Hoffnung, das Land und seine Akteure besser zu begreifen

Es ist ein Protest, der sich aus der Unzufriedenheit mit der Türkei der Gegenwart und ihrer mutmaßlichen Entwicklung speist

Als die beiden jungen Filmemacherinnen Biene Pilavci und Ayla Gottschlich einige Wochen nach der Niederschlagung des Aufstands am Istanbuler Taksim-Platz im Frühjahr 2013 erneut den Ort des Geschehens aufsuchen, begegnet ihnen eine „beliebige Stille“. Es ist ein wesentlicher Bruch in ihrem Film „Chronik einer Revolte – ein Jahr Istanbul“, den beide am 4. Juni im Großen Haus der Volksbühne gemeinsam mit Rüdiger Suchsland vorstellen und diskutieren werden. Zuvor waren die Bilder von Demonstrationen und Gasattacken geprägt, Pilavci und Gottschlich mittendrin, in dem Gefühl filmend, Teil eines bedeutsamen Moments zu sein. Die bald darauf folgende Rückreise zum Wohnort Berlin: schmerzlich. Die Frauen wollen schnellstmöglich zurück nach Istanbul, an ihrem Filmprojekt weiterarbeiten („Dokumentieren und zugänglich machen. Denn das ist das, was wir beitragen können.“). Und dann das, diese „beliebige Stille“. Sie wird nach den Protesten zur neuen Motivation zum Filmen. Ihr auf den Grund zu gehen, das bedeutet, die türkische Gesellschaft auf mehreren Bahnen zu umkreisen. „Inmitten der Unruhen hoffen wir darauf, dieses Land endlich besser fassen zu können“, lautet eine frühe Selbstverortung im Film. „Chronik einer Revolte“, eine Koproduktion aus Pilavcis und Gottschlichs eigener Produktionsfirma Soilfilms mit dem ZDF/Das kleine Fernsehspiel und Arte, ist das Ergebnis dieser Erforschung.

Die beiden kommen dabei selbstverständlich nicht an Tayyip Erdogan, bis August 2014 Ministerpräsident der Türkei, und seiner AKP vorbei. Jener Erdogan, der die Protestler auf dem Taksim-Platz öffentlich als nur „Marodeure“ oder „Plünderer“ führte. Er ist die Figur, unter der sich die türkische Gesellschaft spaltet. Logisch, dass auch Pilavci und Gottschlich nach ihr fragen. Auf einem Parteitag heißt es im Voiceover: „Ist das der große Diktator persönlich? Irgendwie lächerlich, wie er in seinem karierten Anzug mit Nelken um sich wirft.“ Näher kommen sie allerdings nicht an ihn heran. Dafür aber an Bimen. Ihm waren sie im Frühjahr 2013 im Gezipark begegnet: „Überall, wo wir sind, treffen wir auf ihn. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, jede der über hundert Gruppierungen im Gezipark persönlich kennenzulernen. Bimens Impulsivität ist genau wie die Gezi-Proteste selbst: ansteckend und etwas unheimlich zugleich.“ Im weiteren Verlauf des Films ist zu erahnen, wie divers die Gezipark-Gruppierungen tatsächlich sind. Auch, wie widersprüchlich untereinander. Es ist ein atomisierter Protest, der sich aus der Unzufriedenheit mit der Türkei der Gegenwart und ihrer mutmaßlichen Entwicklung speist. Und der Ablehnung eines ignoranten Präsidenten, der sich vor seinen Anhängern wie ein Popstar inszeniert. Die Positionierung der Filmemacherinnen in diesem Punkt ist deutlich: Mit Tayyip Erdogan würden auch sie am liebsten nichts zu tun haben. Im Falle der Gruppen, die sich als vermeintlich eine im Protest verbinden, fällt das Gefühl schon weniger eindeutig aus.

In „Chronik einer Revolte“ kommt es so etwa zu mehreren Begegnungen mit den Antikapitalistischen Muslimen. Pilavci und Gottschlich legen einiges an Hoffnung in sie, denn – so die Vermutung – eine tiefreligiöse Opposition kann Tayyip Erdogan am schwersten ignorieren. Dennoch schwingt auch in diesem Zusammentreffen das Unheimliche mit: Die Antikapitalistischen Muslime sind für die Einführung der Scharia. Von einem ziemlich anderen Punkt aus agiert die junge Frau Melek, auch sie eine Gezi-Bekanntschaft. Die Bauingenieurin hat ihren Job gekündigt, weil sie nicht mehr an Erdogans Bauvorhaben mitarbeiten möchte. Ihr Protest äußert sich in einem Poledance-Kurs. „Meleks Beitrag zur Feminismusdebatte löst in uns ein Staunen aus. Ihr Mut lässt meinen Wunsch kleiner werden, mir Eier wachsen zu lassen, um als Filmemacherin ernst genommen zu werden“, sagt Gottschlich im Film. Dabei beweisen sowohl Gottschlich als auch Pilavci in „Chronik einer Revolte“ eine ganze Menge davon.CAROLIN WEIDNER

■ „Chronik einer Revolte – ein Jahr Istanbul“: Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Premiere am 4. Juni um 21 Uhr, 6/8 €