: Nicht kaufen! „Die Häschenschule“ ist Trash
BESTSELLER 1924 erschien „Die Häschenschule“ von Albert Sixtus zum ersten Mal. Seitdem verkauft sie sich, mit kleinen Dellen in den 1960er und 70er Jahren, wie verrückt. Warum ein „Erziehungsbuch“ aus der Weimar Republik auch heute noch ein Renner ist, erklärt ein wütender Jugendbuchautor
■ ist Kinder- und Jugendbuchautor. Zuletzt erschienen von ihm der All-Age-Thementhriller „Störfall in Reaktor 1“ (2012) und „Eskaliert“ (2012). Hänel arbeitete nach dem Germanistikstudium als Plakatmaler, Werbetexter, Theaterfotograf, Studienreferendar, Spieleerfinder und Dramaturg. haenel-buecher.de
VON WOLFGANG HÄNEL
Stellen Sie sich vor, Ihre Kinder marschierten brav und Hand in Hand zur Schule und freuen sich an der frühen Morgenstunde, die ja bekanntlich Gold im Munde hat. Pünktlich kommen sie alle im Klassenzimmer an. Als der Lehrer vor sie tritt, springen sie geschwinde auf, schmettern ein fröhliches „Guten Morgen, Herr Lehrer!“ und falten brav die Hände zum Gebet. Darauf beginnt ohne Verzögerung der Unterricht, der Lehrer stellt seine Fragen, die Schüler melden sich beflissen und sind mit Feuereifer dabei, denn sie wissen: Wer nichts lernt, aus dem nichts wird, der findet keinen Beruf und keine Arbeit und darf nicht dazugehören.
Stillsein als wahre Reife
In der Pause aber kann guten Gewissens gelärmt und getobt werden, dafür sind Pausen schließlich da und sind ja auch die Belohnung fürs lange Stillsitzen und die anstrengende Arbeit mit dem Kopf. Wie toll jagen die Kinder über den Platz, nein, Halt, nur die Jungen sind wie toll, die Mädchen wandern lieber sittsam mit der besten Freundin am Arm auf und ab. Und wenn ein Junge es gar zu wild treibt, zeigen sie ihm wohl deutlich, dass Übermut selten gut tut und die wahre Reife im Stillsein und Nicht-Kreischen, Nicht-Rennen, Nicht-Schubsen liegt. Der gute alte Lehrer, er steht auf dem Hof und hat ein wachsames Auge auf alles, was passieren mag.
Moment, es reicht, werden Sie jetzt rufen, was soll das? Wir wissen doch, wie es auf den Schulhöfen zugeht und dass so mancher Lehrer bei der Pausenaufsicht darum bangt, ob er die zwanzig Minuten „Freiheit“ überhaupt unbeschadet übersteht!
Doch hören Sie auch noch den Rest der Geschichte: Als der kleine Max nun vom Lehrer bestraft werden muss, weil er nichts als Unfug im Köpfchen hatte, da gibt es einen Satz heiße Ohren. Und dann muss Max in die Ecke, wo er lange über sein Vergehen nachsinnen kann. Mit einer ernsten Ermahnung des guten alten Lehrers geht der Schultag zu Ende und sittsam geht es dann zurück nach Hause, wo der Vater schon zufrieden am gedeckten Tisch sitzt und die Mutter gerade die dampfende Schüssel aus der Küche bringt … Ende gut, alles gut, das Leben ist schön und die Welt allen Unkenrufen zum Trotz völlig in Ordnung.
Ist sie nicht, wenden Sie jetzt zu Recht ein, alles Quatsch! Es will ja wohl keiner die Kinder heute wieder ernsthaft auf preußische Tugenden und längst überkommene Rollenbilder einschwören, oder? Klar, schöner wäre es schon, wenn der Unterricht nicht erst nach einer Viertelstunde mehr oder weniger erfolgreicher Disziplinarmaßnahmen beginnen könnte, wenn die Schüler allzeit motiviert wären, wenn es zu Hause für alle ein warmes Mittagsessen gäbe und eine Mutter und einen Vater, die sich kümmern oder überhaupt nur da sind.
Erziehung à la 1924
Halt, sage ich jetzt, es gibt offensichtlich genug Leute, die kaum Probleme damit hätten, wenn Schule und Erziehung wieder auf den Stand von 1924 rutschen würden, als in der Weimarer Republik die „Häschenschule“ von Albert Sixtus erschien. Ein „Erziehungsbuch“ hatte der Lehrer Sixtus damals geschrieben, das mit einfach gereimten Texten und farbenfrohen Bildern für das warb, was keinesfalls hinterfragt werden durfte und aus kleinen, anarchistischen Monstern brave Kinder und gute Erwachsene machen sollte.
Seit mehr als 80 Jahren wird die „Häschenschule“ nun verkauft, ein echter Bestseller, bereits 1943 war die Auflage bis auf fast 400.000 Exemplare gestiegen und kurz nach Kriegsende schon war der Klassiker wieder in einer neu gestalteten Ausgabe erhältlich. Nach einer Durststrecke in den sechziger und siebziger Jahren liegt die „Häschenschule“ heute mit über einer Million verkauften Exemplaren in der Nostalgiewelle ganz vorne, monatlich gehen manchmal bis zu 50.000 Exemplare über den Ladentisch – der Trend scheint ungebrochen.
Klar, in Zeiten allgemeiner Hast und multimedialer Überflutung und Überforderung sehnt sich so mancher nach dem zurück, was leichtfertig auf der Strecke geblieben ist: eine überschaubare Ordnung und nachvollziehbare Strukturen gerade im erzieherischen Umgang mit Kindern. Die „Häschenschule“ ist da genau das Richtige. Sie bietet einen verlässlichen Gegenpol zum Glitzer und Geschrei der jährlich über 5.000 neuen Kinderbuchtitel und steht in ihrer Schlichtheit für das Beständige, steht für „die gute alte Zeit“, als die Welt noch in Ordnung war. So mag es zumindest manchem scheinen, der in der Zeitung fast täglich über wüste Schulhofschlägereien, Drogenhandel in der Pause, Erpressung, Vergewaltigung und amoklaufende Schüler liest. Und auch die Unterrichtsinhalte waren früher einfacher nachvollziehbar, so wie die Hasen mit Eier-Malen und Kohlgemüse-Ernten gut bedient waren, waren die Menschenkinder ganz offensichtlich mit Schönschrift-Rechnen-Heimatkunde besser fürs Leben gerüstet als mit allem, wofür die Pisa-Ergebnisse nun in schöner Regelmäßigkeit die Mär vom Land der Dichter und Denker Lügen strafen.
So weit also mag der Wunsch nach wieder festgefügten Werten sogar durchaus nachvollziehbar sein – würde er nicht gleichzeitig auch die Struktur unbedingter Autorität für gut heißen und erneut all das aufs Tapet bringen, was wir in der Folge von 1968 ein für alle Mal als den „jahrhundertealten Muff“ der Bildungsanstalten zu Grabe getragen gehofft hatten.
AUTORITÄRER VERKAUFSSCHLAGER
Es geht um ein System von Befehl und Gehorsam, wie es infolge der Bücher „Lob der Disziplin“ oder „Von der Pflicht zu führen“ des ehemaligen Leiters der Salem-Elite-Schule plötzlich von den verschiedensten Seiten eingefordert wird – und da waren dann nicht nur für Bernhard Bueb die schlimmste Zeit die siebziger Jahre, als die Schüler es tatsächlich wagten, Fragen zu Inhalten und Form der pädagogischen Vermittlung zu stellen. Dass solches Tun aber nicht gut tat und tut, meinen mittlerweile eine ganze Reihe rechtschaffener Besserwisser, die sich mit dreister Ignoranz berufen fühlen, „1968“ und jeden Versuch einer „antiautoritären Erziehung“ in Misskredit zu bringen. Dass dem „Häschenschulen“-Lehrer in den heutigen Ausgaben der Rohrstock wegretuschiert wurde, wird da mancher aufrichtig bedauern.
Die Wende ist längst eingeläutet: Das scheinbar fröhliche Miteinander existiert bestenfalls in den ersten beiden Grundschuljahren. Dann geht es auch schon los mit Leistungsdruck, Konkurrenzkampf und scharfer Auslese, dann beginnt der Ernst des Lebens. Natürlich gibt es auch an den weiterführenden Schulen immer noch Lehrer, die es „besser“ machen wollen. Ebendiese Lehrer scheitern mittlerweile nahezu ausnahmslos an einem starren Bildungssystem, das wenig Raum lässt für irgendetwas außerhalb der Rahmenrichtlinien. Und je weniger die übrigen Lehrer zunehmend zu vermitteln haben, umso mehr versuchen sie, ihre Autorität zu sichern, indem sie Schüler mit Hilfe von schlechten Zensuren abstrafen und die strikte Einhaltung höchst fragwürdiger Regeln fordern. Sie fühlen sich von oben alleingelassen und geben den Druck an die Schüler weiter – und die sind die Dummen und landen dann in der Häschengrube.
Schule als Institution hat häufig genug kaum noch etwas mit Lernen oder Erkenntnis zu tun, sondern nur mit dem kurzfristigen Ansammeln von Fakten für die nächste Prüfung. Es geht darum, dass Schüler gestellten Anforderungen gerecht zu werden haben – aber es entsteht kein Wissen, es gibt keine Reflexion, Denken wird systematisch unterbunden, weil es nicht im Lehrplan steht. Schule zermalmt Neugier, Kreativität, eigenständiges Denken, Lust auf Verantwortung – das ist die traurige Wahrheit, die fast jeder, der schulpflichtige Kinder hat, aus leidvoller Erfahrung bestätigen kann.
Aber noch mal: Schuld sind nicht in erster Linie die Lehrer, sondern es ist das System. Wer an der dreigliedrigen Schule festhält, der begeht ein großes Unrecht an den Schülern, das kein Lehrer jemals wieder gutmachen kann. Im Übrigen sollten er und alle anderen schleunigst aufhören, von der vermeintlich heilen Welt der „Häschenschule“ zu träumen, denn dort wurde und wird so ganz nebenbei genau das zementiert, was das Kind ja erst in den Brunnen hat fallen lassen: Das bedenkenlose „Ja und Amen“ zu allem und vor allem zu vielem, was unbedingt hinterfragt gehörte und gehört. Nur wer sich nicht alles widerspruchslos erzählen lässt, kann rechtzeitig erkennen, wo Fuchs und Hase sich „Gute Nacht“ sagen, oder andersrum: Wer das Maul nicht aufmacht, wird dumm! Der Traum von der „Häschenschule“ jedenfalls ist fatal und verwechselt leider Ursache und Wirkung, da helfen auch die schönen bunten Bilder nicht.
Und was tun wir nun mit diesem Büchlein, wenn es uns wieder mal aus den Schaufenstern der Buchhandlungen entgegenspringt? Wir nehmen es als das, was es ist: Trash! Vergesst die „Häschenschule“ einfach.