: „Eros lässt sich kaum versprachlichen“
EXTRAKTE Die Gender-Theoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun ist bekannt für ihre komplexen Gedankengänge. Für die sonntaz hat sie sich auf ein Experiment eingelassen: Wir geben ihr Stichworte – und sie gibt uns zu jedem zwei Sätze
STICHWORTE ALEM GRABOVAC FOTO DETLEV SCHILKE
Erste Erinnerungen.
Christina von Braun: Dass sich Menschen vor einem vorbeifahrenden großen schwarzen Auto (in dem der Papst saß) auf den Boden warfen. Wir Kinder haben das immer wieder gespielt: bei jedem Auto, das sich näherte.
Leben im Vatikan.
Für andere ruft das Wort „Vatikan“ Dogma oder Ostermesse mit Tausenden von Gläubigen auf; mir kommen dabei Erinnerungen an bestimmte Düfte, entfernte Musik und das Gefühl von Sonne auf der Haut. Seltsam, dass ausgerechnet dieser Ort strenger Dogmatik meine Kindervorstellung vom Paradies geprägt hat.
Kindheit.
Unendliche Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Auf den Fotos in der Schule.
Adel verpflichtet.
Ich hatte eine Tante, von der hieß es, dass sie sich nicht zwischen ihrer Zuneigung zum Kaiser und der zum Führer entscheiden konnte. Als sie nach dem Krieg Bundespräsident Heuss vorgestellt wurde, soll sie mit Hitlergruß in einen Hofknicks versunken sein.
Der Onkel Wernher von Braun.
Ein wunderbarer, liebenswerter Onkel, der gleichzeitig mit den größten Verbrechern des 20. Jahrhunderts kollaborierte. Denken lernen hieß auch, mit diesem Widerspruch fertig zu werden.
Die Großmutter Hildegard Margis.
Bewusst habe ich über diese mutige Frau und frühe Frauenrechtlerin leider erst sehr spät Näheres in Erfahrung gebracht, aber unbewusst muss sie immer schon in meinem Kopf gewesen sein. Das konnte ich rückblickend aus vielen meiner Arbeiten erkennen.
Deutschland.
Eine Erbschaft, mit der man leben muss, manchmal aber auch gern lebt. Letzteres musste ich erst langsam lernen.
Genderforschung.
Es ist merkwürdig, wie politische, ökonomische und wissenschaftliche Fragen plötzlich völlig neue Dimensionen annehmen, wenn man sie nach Geschlechterbildern befragt. Ich habe das immer als großen Gewinn für die Erkenntnis empfunden.
Körperpolitik.
Welcher Körper: der soziale, der einzelne, der imaginäre? Eigentlich kann man ‚Körperpolitik‘ nur verstehen, wenn man über die Querverbindungen zwischen den verschiedenen Arten von Körpern nachdenkt.
Sexuelle Potenz.
Wenn wir wüssten, was das ist! Manchmal steckt in einem guten Witz mehr sexuelle Potenz als in einem erigierten Penis.
Die Vulva.
Eine gelungene Tarnung. Der liebe Gott muss sich etwas dabei gedacht haben, als er das weibliche Geschlecht so gut verbarg.
Der Penis.
Wie kommt es, dass ein Organ, das so viel Lust bereiten kann, zugleich zu einer der übelsten Kriegswaffen werden konnte?
Pornografie.
Wenn die Augen zum sexuellen Organ werden können, kann es auch das Geld.
Erotik.
Die Sprache kann erotisch sein, aber Eros lässt sich kaum versprachlichen. Und selbst wenn mir noch eine Definition einfallen sollte, würde ich sie Ihnen nicht verraten.
Sex.
Die dreijährige Tochter einer Freundin reimte: Pimmel und Möse / Das gibt ein Getöse: Das enthält in einer Nussschale alles, was in Literatur und Kunst dazu gesagt wurde. Sie wusste nicht, dass es auch dann Getöse gibt, wenn die beiden auf ihresgleichen stoßen.
Liebe.
Ich kann mich schwer entscheiden, ob sich das plötzliche Entflammen für oder die langsam gewachsene Bindung an einen anderen mit diesem Wort umschreiben lässt. Sie fragen wirklich nach vielen Begriffen, auf die sich schwer mit zwei Sätzen antworten lässt.
Prostitution.
Ein anständiger Beruf. Da er mit der Geldwirtschaft entstand, kann es nicht anders sein.
Kastrationskomplex.
Da wir alle „kastriert“ sind – egal, ob Männer, Frauen oder die Dazwischen – ist der sogenannte Komplex eigentlich ein Normalzustand. In der DDR gab es eine geniale Einrichtung, die hieß „Komplexabgabestelle“.
Vorhautbeschneidung.
Ein Körper gewordenes Symbol: die Einschreibung menschlicher Versehrtheit in den männlichen Körper. Die Fantasie männlicher Unversehrtheit hat viel Unheil angerichtet, das viel deutlicher den Straftatbestand erfüllt.
Die verschleierte Frau.
Ein leerer Signifikant mit vielen paradoxen Bedeutungen und viel älter als der Islam. Paulus forderte von den Frauen, das Haupt im Gotteshaus zu bedecken – mit der interessanten Begründung, dass der Mann Abbild Gottes sei, die Frau aber nur Abbild des Mannes.
Die entkleidete Frau.
Wird uns als Symbol von Freiheit und Emanzipation verkauft. Aber es sollte einen nachdenklich stimmen, dass die rasant schnelle Entkleidung des weiblichen Körpers im öffentlichen Raum ziemlich genau mit der Erfindung der Fotografie einsetzt – dieser Sehtechnik, die behauptet, die „nackte Wahrheit“ wiederzugeben.
Der penetrierende Blick.
Als der Zölibat strenger gehandhabt wurde, ging Sexuallust in Schaulust über. Es war der Beginn der Hexenverfolgungen und der Wissenschaftsrevolution – beide tobten sich am weiblichen Körper aus.
Schönheit.
Während der Arbeit an meinem Film über die Geschichte der Schönheit war eine der für mich überraschendsten Erkenntnisse, dass die Schönheitsideale einer Epoche eng mit den medialen Bedingungen dieses Zeitalters zusammenhängen.
Macht.
Mit Macht in einer Weise umzugehen, die diese nicht verrät, ist eine große Kunst. Nur Wenige beherrschen sie.
Geld.
Erst wenn wir Geld nicht als Tauschmittel, sondern als Medium eines sozialen Netzwerks begreifen, werden wir mit seinen Möglichkeiten angemessen umgehen. Dann könnte sich zeigen, dass die drei Gs – Geld, Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit – die moderne Form von Dreieinigkeit sind.
Gewalt.
Physische, geistige oder politische Gewalt? Offenbar ist Gewalt unvermeidlich – es fragt sich nur, an welche Instanz man sie abgibt.
Krise des Mannes.
Krise bedeutet eigentlich Zerstörung der Ordnung. Ich weiß nur nicht, ob Dominique Strauss- Kahn vor seinem Machtverlust in der Krise war oder erst seither.
Postfeminismus.
Wahrscheinlich ist damit gemeint, dass der Feminismus auf einer Postkutsche sitzt und Telegramme austrägt.
Alice Schwarzer.
No comment.
Charlotte Roche.
Ich habe sie nicht gelesen. Hätte ich das sollen?
Kristina Schröder.
Warum fragen Sie nicht nach interessanteren Politikerinnen?
Angela Merkel.
Sie ist eine der interessanteren Politikerinnen. Niemand kann ihr vorwerfen, mit den „Waffen einer Frau“ zu arbeiten – vielleicht ist dies das Geheimnis ihres Erfolgs.
Die Ehe.
Habe damit gute Erfahrungen gemacht. In diesem Jahr bin ich seit vierzig Jahren verheiratet – mit ein und demselben Mann.
Männer.
Was soll ich darauf sagen? Manche Männer können mich um den Finger wickeln, andere wickle ich um den Finger – und dann gibt es noch die vielen, bei denen weder das eine noch das andere zutrifft.
Frauen.
Die Nachricht, dass Frauen nicht miteinander auskommen, stammt vom Mond oder noch entfernteren Planeten. Ich habe wunderbare und ermutigende Arbeits- und Freundschaftserfahrungen mit Frauen gemacht.
Muttersein.
Auch wenn man dabei an die Grenzen der eigenen Verletzlichkeit gerät, möchte ich diese Erfahrung um nichts in der Welt missen. Viele Fragen, mit denen ich mich theoretisch beschäftigt habe, waren erst einmal als Fragen ans Leben da.
Seitensprung.
In einigen US-Bundesstaaten gingen bis in die 1970er Jahre Männer, die ihre Frau für einen Seitensprung erschossen, straffrei aus: Offenbar hatte man Verständnis dafür, dass ihnen die Treue mehr wert war als Frau selbst. Der große französische Soziologe Emile Durckheim konstatierte schon um 1900, dass die Ehe nicht zum Schutz der Frau, sondern zum Schutz des Mannes entstanden ist.
Träume.
Das sind meine besten Freunde. Seltsam, wie intensiv ein „Erlebnis“ sein kann, das man nur imaginiert hat.
■ Die Herkunft: Christina von Braun, 1944 in Rom geboren und protestantisch getauft, verbrachte die ersten fünf Jahre ihres Lebens im Vatikan, wo ihr Vater im diplomatischen Dienst des Botschafters des Heiligen Stuhls arbeitete. Ihr Onkel war der Raketenforscher Wernher von Braun. Ihre Großmutter Hildegard Margis starb im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße, sie war wegen ihres Widerstands gegen den Nationalsozialismus verhaftet worden.
■ Das Leben: Von 1969 bis 1981 lebte Christina von Braun als freischaffende Autorin und Filmemacherin in Paris. Seit 1994 ist sie Professorin für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. Sie gründete und leitet den Studiengang Gender Studies und ist Sprecherin des Graduiertenkollegs Geschlecht als Wissenskategorie. Christina von Braun ist verheiratet und Mutter zweier Kinder.
■ Das Werk: Christina von Braun produzierte Filmdokumentationen und Fernsehspiele zu kulturhistorischen Themen und schrieb Bücher und Aufsätze über Gender, Religion und Antisemitismus. Ihr aktuellstes Werk, „Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte“, ist in diesem Jahr im Aufbau-Verlag erschienen.
Sehnsucht.
Wahrscheinlich der Triebmotor vieler Neuerungen und Erfindungen. Umso erstaunlicher der Begriff der Sucht, der eigentlich von Abhängigkeit erzählt.
Ängste.
Kenne ich. Was ich aber bis heute nicht durchschaue: Warum hat man manchmal in wirklich gefährlichen Situationen keine Angst und verfällt in anderen, bei denen es eigentlich um nichts oder Eitelkeiten geht, in Panik?
Geheimnisse.
Das ist das größte Paradox unserer Gesellschaft: dass wir einerseits Geheimnisse lieben und sie andererseits zu lüften bestrebt sind. Dieser Widerspruch muss eigentlich psychotisch machen, tut er vielleicht auch.
Feinde.
Habe ich natürlich erlebt und kann ich nicht gut mit umgehen. Aber es hilft, sich zu sagen, dass die Feindseligkeit, die mich trifft, auch etwas mit dem anderen zu tun haben könnte.
Glück.
Man kann Glück haben, weil das Schicksal es gut mit einem meinte. Oder man kann glücklich sein, oft ohne genau zu wissen, warum.
Paris.
Zwölf gute Jahre, in denen ich meinen Mann kennenlernte, meine beiden Kinder zur Welt kamen und ich in einer Psychoanalyse viel unnötigen Ballast loswurde. Wenn ich heute in Paris bin, frage ich mich manchmal, warum sich die Stadt in den letzten dreißig Jahren so wenig verändert hat.
Berlin.
Das ist das andere Extrem zu Paris: die permanente Veränderung. Man kann drei Wochen verreist sein und erkennt bei der Rückkehr die Straßen nicht wieder.
Heimat.
Ich hatte das Glück, mit der Heimatlosigkeit gute Erfahrungen zu machen. Eigentlich hatte ich gedacht, in Paris als Ausländerin alt zu werden; nun bin ich in Berlin, wo fast alle woandersher sind.
Hoffnungen.
Dass dieses Interview bald zu einem Ende kommt.
Utopien.
Mir sind Utopien unheimlich. Wenn sie im Nirgendwo blieben, wäre es okay. Aber sie haben einen seltsamen Drang, sich im Irgendwo anzusiedeln.
Alter.
Die auslaufende Zeit: Was mich am meisten daran ärgert, ist, nicht zu erfahren, wie es später weitergeht – mit dem Klimawandel, der Weltwährung, Europa. Vielleicht erlöst einen die Nähe des Todes aber auch davon, all dies noch wissen zu wollen.
Glauben.
Ich glaube an die Skepsis. Ich habe gute Erfahrungen mit ihr gemacht und vertraue in sie.
Gott.
Und wenn die Skepsis ein anderer Name für Gott wäre?
■ Alem Grabovac, 38, sonntaz-Autor, ist vor Kurzem Vater geworden