: Das Found Footage der digitalen Ära
DESKTOP-KINO Analytisch, ohne vom Schreibtisch aufzustehen: Kevin B. Lee montiert YouTube-Material und Amateurvideos zu Filmessays
VON TILMAN BAUMGÄRTEL
Wenn ein Film seinen Kinostart hat, erscheinen in der Presse die Kritiken. Auch eine DVD-Veröffentlichung kann noch Anlass zur Berichterstattung sein. Aber wenn ein Film im Internet sein Debüt feiert? Wenn es sich nicht gerade um die neue Staffel von „House of Cards“ handelt, stehen die Chancen gut, dass sich das Opus im Netz ohne weitere Aufmerksamkeit versendet.
Der Kurzfilm „Transformers: The Premake (A Desktop Documentary)“, im vergangenen Jahr von dem US-amerikanischen Filmkritiker Kevin B. Lee online veröffentlicht, ist allerdings so herausragend, dass er leise, still und heimlich doch den Weg aus dem Netz auf die Filmfestivals und in die Debatte gefunden hat. Nach Einsätzen bei den Filmfestivals von Rotterdam und Wien war er zuletzt auch bei der die Berlinale flankierenden „Woche der Kritik“ zu sehen und dort der ungewöhnlichste Film.
Denn Lee demonstriert mit seinem „Desktop-Film“, dass es heutzutage möglich ist, filmische Dokumentationen von globalen Ereignissen zu produzieren, ohne sich ein einziges Mal von seinem Computer wegzubewegen. Die Produktion der letzten Folge des Hollywood-Action-Spektakels „Transformers“ (Regie führte dabei Michael Bay) ist für Lee der Anlass zu einem filmischen Essay über Globalisierung, Neoliberalismus und die Rolle des Kinos in einer Welt, in der die Mehrheit der Menschen der Ersten Welt ein mit einer Videokamera ausgestattetes Telefon in der Tasche hat und jeder ein potenzieller Filmemacher ist. In seiner Vorgehensweise erinnert Lees Arbeit an den Found-Footage-Film „Selbstportrait Syrien“ (2014) von Ossama Mohammed und Wiam Simav Bedirxan, der fast komplett aus Amateurvideos aus den Kriegsgebieten in Syrien besteht, die die Filmemacher in Paris zu einem entsetzlichen Kriegspanorama montierten.
Auch die Produktion des vierten „Transformers“-Films ist im Grunde eine Art Krieg: ein Feldzug um die Aufmerksamkeit des Publikums, das in die Kinos strömen soll, damit das Budget von 210 Millionen Dollar wieder eingespielt wird. Und dieser Feldzug beginnt schon bei den Dreharbeiten an Originalschauplätzen. Die Legionen von Amateurvideos von spektakulären Action-Szenen, die bei Youtube auftauchten und via soziale Medien durchs Netz getweetet, weitergepostet und gelikt wurden („Awesome! Can’t wait to see the movie!“), dienen als erste Publicity-Welle für den Film. Lee hat seine eigene Drag-&-drop-Montagemethode entwickelt, mit der er die YouTube-Clips über den Bildschirm seines Computers wandern lässt, wo sie von Tweets der Schaulustigen an den Drehorten kommentiert werden.
2009 wurde ihm noch sein YouTube-Konto gesperrt, weil er in einem früheren Video fremdes Filmmaterial verwendet hatte. „Heute scheine ich mit weniger Einmischung arbeiten zu können“, sagt Lee, „was auch daran liegen mag, dass die Filmfirmen gemerkt haben, dass derartiges Material dazu dient, ihre Filme zu bewerben.“ Zwar verschwanden bei YouTube auch einige Aufnahmen der „Transformers“-Dreharbeiten nach Beschwerden von der Produktionsfirma Paramount. Aber die zahllosen Aufnahmen von Verfolgungsjagden und Explosionen, die noch im Netz zu finden sind, wären immer noch vollkommen ausreichend, um mit ihnen einen „Making-of“-Film zu drehen.
Das änderte sich erst, als die Dreharbeiten in China fortgesetzt wurden – auch ein Zeichen dafür, welche Bedeutung der chinesische Markt für die Gewinnerwartungen der Hollywood-Studios heute hat. Denn um dort den Erfolg zu sichern, wurde die beliebte Schauspielerin Li Bingbing besetzt und in spektakulären Landschaften gedreht. Das erfuhr man allerdings nur aus Berichten des Staatsfernsehens. Videoamateure kamen nicht an die Drehorte heran.
So eindringlich wie Lee hat wohl noch niemand die globale Macht gezeigt, die derartige gigantische Hollywood-Produktionen haben: In Detroit räumte man Paramount sogar Steuernachlässe ein, damit die Firma das Zentrum der heruntergekommenen Industriestadt zusammenballerte. Indem er dieses Material als Clips und Dateien auf seinem Computer zeigt, will Lee auch demonstrieren, dass der Desktop für viele „zur primären Realitätserfahrung“ geworden ist.
Der Amerikaner begann um 2000 damit, sich selbst das Filmemachen beizubringen. 2007 produzierte er sein erstes Video-Essay über Fritz Langs „When the City Sleeps“ für seinen eigenen Blog. Filme über Filme wurden zu seinem Markenzeichen. „Die digitale Medienrevolution hat die Youtube-iPhone-Epoche der persönlichen Medienproduktion hervorgebracht“, sagt Lee. „Eine neue Generation hat keine Schwierigkeiten mehr damit, Bilder zu benutzen, um sich auszudrücken.“
Lee hat inzwischen mehr als 250 Videoessays für Internetmagazine wie das Video-on-Demand-Portal www.fandor.com, die Website des British Film Institute (www.bfi.org.uk) und des Filmkritikers Roger Ebert (www.rogerebert.com) produziert. Er nennt als Vorbild für seine Arbeit den deutschen Kollegen Michael Baute, der bei seinen Videoessays wiederum von den Werken Harun Farockis beeinflusst wurde. Dass solche Videoessays die geschriebene Kritik ersetzen werden, glaubt Lee allerdings nicht: „Natürlich kann Schreiben Ideen besser ausdrücken als Video. Ein Problem mit Videoessays ist, dass sie oft nachlässiges Denken kaschieren. Manche von ihnen erwecken durch coole Schnitte und Bilder den Eindruck, als seien sie tiefgründig, sind es aber gar nicht – genauso wie ein Film von Christopher Nolan.“
■ Die Videoessays von Kevin B. Lee finden sich unter www.alsolikelife.com, unter vimeo.com/kevinblee und unter vimeo.com/fandor