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Archiv-Artikel

Die Erdbeersaison dauert das ganze Jahr

Studenten, die Ende der 60er auf die Barrikaden gehen, Sex haben und John Lennon hören: Der US-Film „Blutige Erdbeeren“ war im Westen eher unbekannt, in der DDR aber Kult. Deshalb läuft er seit über elf Jahren jeden Freitag im Hellersdorfer Kino „Kiste“. Manchmal nur vor zwei Zuschauern

VON GUNNAR LEUE

Das Kino „Kiste“ in Hellersdorf sieht genauso aus, wie es heißt. Es ist nicht viel mehr als ein Vorführraum in einem kleinen Plattenbauwürfel, der der Hellersdorfer Jugend als Freizeitklub dient. Das Edelste am Kinoraum sind die 76 gepolsterten Stahlrohrstühle, die bis zu ihrer Entsorgung aus dem Palast der Republik Abgeordnetengesäße in der DDR-Volkskammer weich betteten.

Die zweite Besonderheit ist das Programm in der „Kiste“. Jeden Freitag zur Mitternachtsstunde läuft – seit mittlerweile rund elf Jahren – „Blutige Erdbeeren“. Manchmal nur vor ein, zwei Zuschauern. Insgesamt waren es aber doch einige tausend. Für die meisten gehörte der Film zu den schönsten Erinnerungen an die DDR, insofern kann man ihn durchaus als Ostalgiestreifen bezeichnen.

„Blutige Erdbeeren“ ist allerdings kein Defa-Film, sondern ein amerikanischer. Er handelt von den Studentenunruhen in den USA Ende der 60er-Jahre. Regisseur Stuart Hagmann erzählt die Geschichte eines unpolitischen Studenten, der durch eine hübsche Che-Guevara-Anhängerin zu den streikenden Kommilitonen stößt und am Ende mit allen anderen Protestlern von der Nationalgarde brutal niedergeknüppelt wird. 1970 erhielt „Blutige Erdbeeren“ den Jurypreis des Filmfestivals in Cannes. Während er im Westen wenig Beachtung fand, wurde er in der DDR zu einem echten Kultfilm, machte er die zuschauende DDR-Jugend doch indirekt zum Teil der weltweiten Protestbewegung.

Noch überzeugender als die gute Sache waren die gute Musik – Crosby, Stills, Nash & Young, Joni Mitchell, John Lennon – und die lockeren Sitten, die im Film vorgeführt wurden. Auch wenn aufgezogene Karteischrankfächer die Oralsex-Demonstration einer Streikaktivistin verdeckten, erkannte doch jeder, dass der antiimperialistische Kampf ziemlichen Spaß machen konnte und auch ohne sozialistische Moral funktionierte.

Diese cineastische Mischung aus Politik, Pop und Poppen begeisterte in den 70er-Jahren eine ganze Generation Ostjugendlicher und dürfte mehr zur Attraktivität des Westens beigetragen haben als jedes Westpaket.

Der Film hatte denn auch Folgen, die so nicht ganz erwünscht gewesen sein dürften. An meiner Heimat-Penne kopierten im Internat wohnende Mitschüler eines Tages spontan eine Aktion aus dem Film, um gegen eine Maßnahme des diktatorischen Heimleiters zu protestieren. Sie setzten sich auf den Flur und klatschten rhythmisch mit den Händen auf den Boden – so wie es die Studenten zur Musik von John Lennons „Give Peace a Chance“ getan hatten, bevor sie unter Tränengas aus der Uni-Aula geprügelt wurden. So weit kam es im Internat nicht, allerdings endete der Aufruhr genauso erfolglos wie im Film. Auch wenn „Blutige Erdbeeren“ nach einigen Jahren in der DDR nicht mehr gezeigt wurde, war die Mitklatschnummer jahrelang ein Klassiker auf vielen Fußböden der Republik, speziell in Diskotheken. Sobald Lennons Friedenshymne erklang, fielen die Tänzer im Kreis auf die Knie und klopften heftigst den Boden. Es war wie ein Ritual, das Hippietum und FDJ-Jugendtanz auf einen seltsamen (heute leicht peinlich anmutenden) Nenner brachte.

„Kiste“-Chef Fred Schöner, der den legendären Streifen nach der Wende selbst wieder aufgetrieben hatte, findet: „Der Film funktioniert heute immer noch.“

Was bis vor kurzem kaum noch funktionierte, war jedoch die Technik. Bevor der Neue Visionen Filmverleih aus Prenzlauer Berg als mittlerweile fünfter Verleih 2002 eine neue Kopie zog, hatte Schöner nur zwei verschlissene aus der DDR zur Verfügung. „Die Kopien hätten eigentlich gar nicht mehr existieren dürfen, weil sie nach dem Ablauf der Lizenz normalerweise zu vernichten waren. Aber das hatte man in der DDR nicht so genau genommen. Jedenfalls waren die Kopien am Ende so oft gerissen und geflickt, dass ganze 22 Minuten Film fehlten.“ Trotzdem kamen immer wieder Zuschauer, manche mit ihren halbwüchsigen Kindern. Sogar Schulkassen haben sich „Blutige Erdbeeren“ angesehen. Gelegentlich besuchten auch junge Westberliner die „Kiste“, nachdem sie von Freunden den Tipp erhielten. Auf eine neue Zielgruppe hatte Fred Schöner gehofft, als die Berliner Studenten streikten. Doch die bleiben als Zuschauer aus.