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Archiv-Artikel

Kleinod zu Großod

Osnabrück will „Kulturhauptstadt Europas 2010“ werden – Die Wahrheit ist dabei

Die zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge gebettete, mit schmucken Asphaltbändern umgürtete niedersächsische Gemarkung Osnabrück bewirbt sich um den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2010“ und löckt damit wider die Landesregierung, deren Wohlwollen allein auf Braunschweig ruht. Die Wahrheit wird Osnabrück auf dem langen Weg durch die Institutionen publizistisch begleiten und nach bestem Vermögen unterstützen.

Ausgerechnet die von einem dringend zur Expatriation vorzuschlagenden Osnabrücker geführte niedersächsische Landesregierung lässt nicht nach in ihrem Bestreben, das beflissene Ringen der Hanse- und Hasestadt um den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ wo immer es geht zu hintertreiben. In einem frisch aufgelegten Faltblatt wirbt Osnabrück noch damit, im Rahmen des Unabhängigen FilmFestes Jahr um Jahr den weltweit begehrten „Friedensfilmpreis“ zu vergeben, da ist die Existenz dieser Veranstaltung auch schon in Frage gestellt, weil die landeseigene Filmförderungsagentur NordMedia den traditionsreichen Lichtspielfestspielen den finanziellen Beistand entziehen möchte. Als Basis der Maßnahme dient ein Gutachten, das sicher nicht ohne Grund unter Verschluss gehalten wird. Schließlich gelangten Auszüge an die Öffentlichkeit, die mindestens auf Fahrlässigkeit, wenn nicht gar Heimtücke schließen lassen, wirft es den Osnabrückern doch „Unschärfe des Profils“ vor. Schon wurde der Gedanke laut, beim Gutachter handele es sich um jemanden, der insgeheim mit den Braunschweigern im Bunde steht.

Von derlei Machenschaften aus dem Umfeld des Ministerpräsidenten Christian Wulff lassen sich die Osnabrücker Stadtväter, -mütter und -kinder indes nicht verdrießen. Im Gegenteil, man rückt zusammen, in den heimeligen Gassen ebenso wie auf den von kraftvollen Motoren nur so strotzenden Prachtboulevards der Vororte. Die jüngste frohe Botschaft verdankt sich einem örtlichen Großspediteur, der als Mäzen künstlerische Verrichtungen des Aktionsclowns H. A. Schult ermöglichte und nun auch Osnabrücks Anspruch auf die kulturelle Gesamthoheit über Europa auf seine Lastwagenplanen malen und so grenzüberschreitend geltend machen wird.

Nicht bloß H. A. Schults Müllberge, vor allem auswärtige Besucher müssen nach Osnabrück verfrachtet werden. Auch in dieser Hinsicht dürfen Fortschritte vermeldet werden: Das Kleinod, das ein Großod werden möchte, bekam einen lang ersehnten Wunsch erfüllt und ist seit Einführung des Winterfahrplans endlich ICE-Haltestelle. Das nämlich macht in der Stadtwerbung einiges her, auch wenn die viermal pro Tag mögliche Verbindung zwar eine Verteuerung des Fahrpreises, ansonsten aber keine Vorteile bringt, weil die Strecke Hamburg–Osnabrück–Münster noch gar nicht für Hochgeschwindigkeiten ausgelegt ist und der luxuriöse ICE im selben Tempo dahinschnurrt wie der herkömmliche Intercity.

Dringend zu informieren gilt es derweil über den Aufruf des nimmermüd agierenden Oberbürgermeisters an alle Bürger und Förderer, sich nach bestem Vermögen an der Kulturhauptstadtskampagne zu beteiligen. Auch hätten die zuständigen Kreise gern folgende Fragen beantwortet: Was erwarten Sie von Osnabrück als Kulturhauptstadt Europas 2010? Worin unterscheidet sich Osnabrück von anderen Städten? Was denken Ihre Bekannten und Freunde über Osnabrück?

Die Wahrheit begünstigt und unterstützt, ja powered Osnabrücks Aufstieg zur europäischen, wenn nicht sogar Weltkulturhauptstadt und richtet demgemäß ein dringendes Ersuchen an alle Leserinnen und Leser, mit – wohlgemerkt: konstruktiven – Vorschlägen entsprechend Beihilfe zu leisten. Es freut sich erklärtermaßen schon sehr auf Post: das Büro Kulturhauptstadt, Rolandsmauer 24, 49074 Osnabrück, E-Mail: kulturhauptstadt@osnabrueck.de.

Im Übrigen wird Osnabrück nicht nur kulturell, sondern auch politisch bald häufiger von sich reden machen. Die letztgültige Analyse der Lage nämlich verdanken wir dem Osnabrücker Leitartikler Harald Preuin, der am 15. Februar gewohnt scharfsinnig formulierte: „Nach der augenblicklichen Wählerstimmung sind die Sozialdemokraten beinahe nur noch ein 5. Rad am Wagen. Und damit ist der Karren nicht aus dem Dreck zu kriegen.“ CASPAR WIEDENBROCK