: Medikamententests bei Kindern
Bisher war es nicht erlaubt, Medikamente an Kindern und Jugendlichen zu testen. Ein neues Gesetz soll das jetzt ändern. Künftig sollen Medikamententests mit jungen Patienten auch dann möglich sein, wenn sie selbst keinen Nutzen davon haben
VON KLAUS-PETER GÖRLITZER
Die Bundesregierung will erlauben, was hierzulande bisher zumindest rechtlich tabu war: Arzneimitteltests mit kranken Kindern und Erwachsenen, die ihnen persönlich weder Heilung noch Linderung bringen können. Dies sieht der Entwurf zur Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG) vor, der schon im März den Bundestag passieren und „die Konkurrenzfähigkeit des Pharmastandorts Deutschland verbessern“ helfen soll.
Gegenwärtig dürfen neue Wirkstoffe und Diagnostika nur dann an Patienten ausprobiert werden, wenn ein therapeutischer Nutzen für die Testpersonen wahrscheinlich ist. Diese Bedingung soll nach dem Willen des Gesundheitsministeriums nicht mehr unabdingbar sein; die Mitwirkung kranker Kinder soll künftig auch zulässig sein, wenn die klinische Prüfung „für die Gruppe der Patienten, die an der gleichen Krankheit leidet wie die betroffene Person, mit einem direkten Nutzen verbunden“ ist.
Diese interpretierbare Formulierung ermöglicht zum Beispiel, dass – Einwilligung der Eltern vorausgesetzt – kleine Patienten als Kontrollgruppe benutzt werden, um Aufschluss über Wirkungen und Risiken einer Arznei zu bekommen: Während ein Teil der Probanden das zu prüfende Präparat erhält, wird der Kontrollgruppe ein Placebo (Scheinmedikament) verabreicht; anschließend wird untersucht, ob und wie sich das Krankheitsbild bei allen Versuchsteilnehmern verändert hat.
Fragwürdig ist dieses Vorgehen vor allem, wenn eine neue Arznei gegen eine Erkrankung erprobt werden soll, für die es längst eine wirksame Standardtherapie gibt. Selbst dann hält es das Bundesgesundheitsministerium aber „zur Gewinnung verlässlicher wissenschaftlicher Aussagen“ für gerechtfertigt, den Patienten der Placebo-Gruppe das bewährte Arzneimittel vorzuenthalten, sofern dieser Entzug nur mit einem „minimalen Risiko“ verbunden sei. Allerdings definiert der Gesetzentwurf nicht, was ein „minimales Risiko“ ist.
Reine Placebo-Gabe an Kranke bei gleichzeitiger Existenz einer erprobten Therapie sei ein „Verstoß gegen die geltenden ärztlichen Berufsordnungen“, kritisiert dagegen der stellvertretende Vorsitzende der Medizinethik-Enquete, Hubert Hüppe (CDU). Auch die Bundesärztekammer (BÄK) sieht einen „erheblichen ethischen Konflikt“ bei gruppennützigen klinischen Prüfungen an Kindern und Jugendlichen. „Der Meinungsbildungsprozess zu dieser Problematik“, heißt es in einer BÄK-Stellungnahme, „ist innerhalb der Ärzteschaft noch nicht abgeschlossen.“
Gleichwohl wird die geplante AMG-Reform, mit der Rot-Grün eine ab Mai anzuwendende EU-Richtlinie umsetzen würde, von diversen forschenden Kinderärzten und Pharmaunternehmen seit Jahren angemahnt. Nach Darstellung des Marburger Professors Hannsjörg W. Seyberth gibt es für circa 70 Prozent der in der Kinderheilkunde eingesetzten Medikamente „keine gesicherten wissenschaftlichen Daten“ – mangels Studien müssten sich Kinderärzte häufig auf Erfahrungswerte verlassen und Präparate verordnen, die zwar für Erwachsene, nicht aber speziell für Minderjährige zugelassen seien. „Das Fehlen einer klinischen Prüfung im Kindes- und Jugendalter“, behauptet Seyberth, „führt dazu, dass bestimmte Arzneimittel im Kindesalter nicht angewendet werden und damit Kindern potenziell wirksame Arzneistoffe vorenthalten werden.“
Zurückhaltender äußert sich der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. „Neue Substanzen“, schreibt Professor Bruno Müller- Oerlinghausen, sollten Kindern nur verabreicht werden, „wenn unbedingt notwendig“. Zuvor seien Studien erforderlich, doch könnten auch sie „seltene Risiken nicht sicher ausschließen“. Zu bedenken sei, dass „irreversible unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Tod durch Verabreichung neu eingeführter Substanzen“ gerade bei Kindern „besonders gravierende Ereignisse“ seien. Müller-Oerlinghausen rät, „den Fokus“ auf die sichere Anwendung schon lange eingesetzter Wirkstoffe zu legen. „Auf keinen Fall“ dürfe verstärkt für die Verordnung neuer Präparate bei Kindern geworben werden, nur weil eine Pharmafirma hierfür eine Studie vorgelegt habe. Allerdings könnte die Industrie diese Situation provozieren, warnt Müller-Oerlinghausen, „indem dem Arzt haftungsrechtliche Konsequenzen bei der Anwendung älterer, nicht bei Kindern geprüfter, aber bewährter Substanzen suggeriert werden“.
Mit vielen offenen Ohren können die Arzneimittelhersteller wohl im Bundestag rechnen; nur aus der Medizinethik-Enquete waren bisher ein paar kritische Stimmen zur geplanten AMG-Novelle zu hören. Bedenkenträger sind in der Volksvertretung scheinbar nicht angesagt, Öffentlichkeitsarbeit betreiben die Befürworter der AMG-Novelle: „Klinische Prüfungen“, versicherte wiederholt der SPD-Gesundheitsexperte Horst Schmidbauer, „werden streng überwacht.“ Die Sorge vieler Eltern, ihre Kinder könnten zu Versuchskaninchen werden, sei unbegründet. „Ethikkommissionen gemeinsam mit staatlichen Stellen verhindern dies.“
Differenzierter sehen das Fachleute, zum Beispiel Christian von Dewitz, Geschäftsführer der Ethikkommission des Berliner Universitätsklinikums Charité. In einer Anhörung des Gesundheitsausschusses schilderte der Jurist Ende Januar, was er im Alltag hinter verschlossenen Türen erlebt. Rund 240 Forschungsvorhaben seien im Jahr zu begutachten. Pro Studie könnten sich die Kommissionen, die an Universitätskliniken und Landesärztekammern angesiedelt sind, durchschnittlich gerade mal zwanzig Minuten Beratungszeit nehmen. Dabei seien die ehrenamtlich tätigen Mitglieder – es handelt sich überwiegend um Ärzte, Pharmakologen und Juristen – längst nicht auf allen Gebieten der Medizin kompetent. Trotzdem verzichteten sie meist darauf, einen unabhängigen Sachverständigen zu Rate zu ziehen. Von einer sachgerechten Entscheidung könne dann „aufrichtigerweise wohl kaum gesprochen werden“.
Obendrein seien viele Kommissionsmitglieder aus Universitäten einem erheblichen „Loyalitätsdruck“ und „Interessenkonflikt“ ausgesetzt: „Die meisten“, weiß von Dewitz, „sind selbst Forscher und direkte Kollegen der Antragsteller.“ Um den „Wissenschaftsstandort der jeweiligen Universität zu wahren“, seien dort eingerichtete Ethikkommissionen bemüht, „die Anforderungen an klinische Forschungsvorhaben nicht zu hoch anzusiedeln“. Die Gemengelage aus Rücksichtnahme und Überforderung kann ernste Folgen zeitigen: „Immer wieder“, schreibt von Dewitz, „kommt es zur Missachtung der Grund- und Schutzrechte von Prüfungsteilnehmern und in der Folge auch von Prüfärzten, Pharmafirmen und sonstigen Behörden.“
Angesichts solcher Zustände mag es sachgerecht erscheinen, dass die Kommissionsvoten bisher nicht mehr sind als Empfehlungen, denen die Studienleiter zwar folgen sollten, aber nicht müssen. Mit solcher Unverbindlichkeit wird es jedoch vorbei sein, wenn die AMG-Novelle so beschlossen wird wie von der Bundesregierung geplant. Die will die Ärzteberatergremien nämlich mächtig aufwerten: zu einer „Patientenschutzinstitution mit Behördencharakter“. Deren Bewertungen werden also künftig rechtsverbindlich sein – und auch mit Rechtsmitteln anfechtbar. Sollten Testpersonen oder Pharmafirmen nachweisen können, dass ihnen in Folge eines mangelhaften Votums gesundheitliche oder finanzielle Schäden entstanden sind, drohen Regressansprüche in mehrstelliger Millionenhöhe.
Angesichts solcher Perspektiven dürfte es manch ehrenamtlichem Gutachter schon ein wenig mulmig werden. Die Berliner Ärztekammer fragte Ende Januar denn auch besorgt beim Bundestag nach: „Wie kann der Gesetzgeber verhindern, dass Ärztekammern als Träger von Ethikkommissionen im Haftungsfall gezwungen sind, sogar auf die Rücklagen der Versorgungswerke, also die Altersversorgung von Pflichtmitgliedern zuzugreifen?“ Eine klare Antwort steht noch aus.