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Archiv-Artikel

Rilkes Sehschule

Rücksichtslos geradeaus ausstellend zeigt das Modersohn-Becker Museum das Beste aus Worpswede: Unerwähnt in der Rilke-Monografie formuliert sich in den Arbeiten von Marie Bock und Clara Westhoff die Möglichkeit des Aufbruchs in die Moderne, der sich im Werk der Hausheiligen vollzieht

Zu rekonstruieren: Rilkes Augen anhand der Optik seiner Zeitgenossen„Ganz wie ein Blinderrings ein Ding begreift“

Vielleicht ist es im Sinne des Gesamtprojekts sogar gefährlich, was das Paula Modersohn-Becker Museum gerade macht. Aber dazu später mehr. „Die Frauen“, erläutert Museumsdirektor Rainer Stamm die just eröffnete Ausstellung mit Werken von Marie Bock, Clara Rilke Westhoff und selbstredend von der Hausheiligen, „sind der blinde Fleck der Worpswede-Monografie.“

Der blinde Fleck, die Metapher ist so originell nicht mehr: – kaum wird etwas verdrängt, schon heißt’s der blinde Fleck. Und verdrängt werden sie kräftig, die drei Damen: Da schreibt also Rainer Maria Rilke 1903 sein Buch über die Worpsweder Malerkolonie. Und die biografisch und kunsthistorisch wichtigsten Figuren erwähnt er mit keinem Sterbenswörtchen: Die Dekorateure, die kommen alle vor, der Hans am Ende, und der Fritz Mackensen und Modersohn auch. Aber nicht die Frauen.

Warum nur, heißt also die Frage der Ausstellung „rücksichtslos geradeaus malend“, warum bloß blickt der doch unstreitbar vom Genius beatmetete RMR so gebannt rücksichtslos geradeaus immer stur nur aufs Gesumpf der männlichen Sezessionisten vom Teufelsmoor? Frage, die, wenn überhaupt, nur eine Archäologie des Blicks beantworten kann. Womit das verallgemeinert gern und vielzitierte Sprachbild vom lichtunempfindlichen Bezirk der Netzhaut, an dem der nervus opticus in den Augapfel eintritt – also: vom blinden Fleck – zurück gebunden wäre an seine ursprüngliche Sphäre. Die des Sehens. Und doch noch seine subversive Kraft entfalten kann. Aber davon später mehr.

Zu rekonstruieren sind: Rilkes Augen anhand der Optik seiner Zeitgenossen. Und im Vergleich zu ihr. In einem Raum, mehr war’s auch damals nicht, zeigt das PMBM deshalb die Skandal-Ausstellung von 1899. Na,Skandal ist ein viel zu großes Wort. Der reinliche Biedermaler Arthur Fitger hatte die Kabinett-Schau in der Kunsthalle unqualifiziert verrissen. Fräulein Becker holte darob ihre Werke wieder ab: Sie hingen nur fünf Tage.

Die Quellenlage erlaube nur eine Annäherung, räumt Stamm ein. Die Eingangslisten der Kunsthalle beschränken sich auf Zahlen oder abgekürzte Titel. Aufschlussreich und beweiskräftig ist die Wiederherstellung dennoch: An ihr lässt sich ablesen, dass die Anwürfe nicht nur einer misogynen, sondern seiner allgemein modernefeindlichen Grundhaltung entflossen. Denn zu sehen ist, dass die drei Frauen mit ihren „Studien“mehr als den Rahmen gesitteteter Handarbeit verließen. Sie stürmten weit nach vorne auf dem Feld der Kunst. Trefflich bemängelt der Historienmaler daher bei Clara Westhoffs Raum umspielten Plastiken à la Rodin, dass diese Kunst „schon ein bißchen reichlich dreist“ sei. In Frankreich wäre ihr das nicht passiert. Das, was die Kunsthalle damals zeigte, das, was die Keimzelle der aktuellen Ausstellung ist – Bocks herausragende Nasen, Beckers drastisch naturalistische, und von dort bereits den Weg über den Gegenstand hinaus ins Expressive suchenden Bildnisse der Landleute, das war um 1900 Avantgarde. Weit enger lässt es sich verbinden mit dem Fortgang der Kunstgeschichte, als dies mit dem Oeuvre auch nur eines der männlichen Künstlerdörfler geschehen könnte. In diesen Werken festgehalten ist die Möglichkeit des Aufbruchs.

Das behauptet die Ausstellung nicht nur. Das beweist sie auch: Einerseits indem sie den Katalog des Schaffensjahres 1899 bei ihren drei Protagonistinnen in zusätzlichen Räumen noch etwas breiter aufblättert. Schmetterlinge, Aktstudien: Die unbestechlichen Linien von Clara Rilke-Westhoffs Zeichnungen stehen denen etwa eines Egon Schiele in nichts nach. Zum anderen, indem sie dem einen Fall, in dem das da schon vorhandene Potenzial ausgeschöpft wurde, bis ganz zum Ende nachgeht. Immer an der Leitschnur der intellektuellen und freundschaftlichen Beziehung zum Dichter.

Denn, zugegeben, Bock gerät schließlich vom Teufelsmoor in den braunen Sumpf Berlins, und Westhoff stagniert ein wenig vor sich hin – klassische Worpsweder Lebenswege. Aber Paula Beckers Entwicklung gewinnt an Fahrt. Stetig spröder und eigenständiger definiert sie Malerei – bis zum Schluss. Und bis zum Schluss vor Rilkes wissenden Augen.

Warum also diese Auslassung? Die Frage wird von Bild zu Bild drängender. Strategie? Oder – schließlich war das Buch ein Auftragswerk – gesunder Pragmatismus? Oder – frevelhafter Verdacht – doch ein noch zu konventioneller Kunstsinn?

Belege finden sich für alle Deutungen. Etwa in den Tagebüchern, oder im von Stamm frisch und erstmals edierten Briefwechsel mit Paula Modersohn-Becker. Jedenfalls kommentiert Rilke Claras Schaffen schon 1899, über Paulas Bilder verliert er dagegen kaum eine Zeile – bis nach ihrem Tode.

Dann, 1908, schreibt er das Langgedicht „Requiem für eine Freundin“. Mit präzisen Beschreibungen, gekoppelt an wirklich visionäre Deutungen. Und Deutungs-Deutungen: „ach,/ da steigt es in mir auf: ich kann nicht anders,/ ich muß begreifen, und wenn ich daran stürbe“. Gefasst wird dieses plötzliche und merkwürdig posthume Verstehen als Bild- und Blick-Verlust: „Ganz wie ein Blinder rings ein Ding begreift“, raunt es fort. Interessierten Hardcore-Philologen sei empfohlen: Die Stelle ist zu vergleichen mit dem Brief vom 28. Oktober 1900, wo’s am Schluss ein 1a Ovid-Zitat gibt. Für alle anderen reicht: Die Rolle, die Rilke sich selbst hier zuweist, ist die eines optischen Echos, dessen Geben an dem zu messen wäre, was es selbst empfängt. Kurz: ein Spiegel. Zugleich wird die Malerin zur Bedingung der Möglichkeit des Blicks, ja des Sehens überhaupt. Das ist, um es mit einem eingängigen Wort zu bezeichnen: Der blinde Fleck. Was wiederum – gefährlich gefährlich! – fürs Gesamtprojekt „Rilke.Worpswede“ hieße… Nein, so wörtlich darf man Metaphern nicht nehmen. Nur, gesagt sein muss es doch: Physikalisch ist es unmöglich, dem Blick eines Auges zu folgen, während man seinen blinden Fleck betrachtet. Benno Schirrmeister

Bis 31. August. Paula Modersohn-Becker, Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke, Insel 114 Seiten, 13,80 Euro