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Archiv-Artikel

Die hydraulische Gesellschaft

Lässt man ein gutes Jahr danach noch einmal die Argumentation der deutschen Regierung Revue passieren, mit der sie sich gegen den Irakkrieg ausgesprochen hat, und destilliert die ideologischen Untertöne heraus, so bleiben im Wesentlichen zwei praktische Argumente bestehen. Das erste besagt, dass eine Besatzung durch ausländische Truppen, zudem amerikanische, keine gerechten Verhältnisse schaffen könne, weil sie die Souveränität des irakischen Staates untergrabe und alte Feinde zu neuen Verbündeten im Kampf gegen die Befreier mache. Demokratie könne nicht einfach geliefert werden wie Waffen, und wenn die Iraker sie wollten, dann müssten sie diese selbst schaffen. Das zweite Argument knüpft daran an, wenn auch deutlich pessimistischer. Mit Verschwinden des einenden und starken Staates würden die inneren Widersprüche zwischen Volksgruppen und Religionen offen ausbrechen, das Land würde im Bürgerkrieg versinken. Die Menschen im Irak seien nicht bereit für den schnellen Übergang in die Demokratie; vielmehr müsse diese – mit internationaler Unterstützung – als langwieriger Prozess aus dem Irak selbst erfolgen.

Angesichts der Entwicklungen im Irak scheint sich nunmehr herauszustellen, dass es ausgerechnet das pessimistische der beiden Argumente war, das mehr als nur einen Funken Wahrheit enthielt. Denn offensichtlich hat die von der US-Regierung eingesetzte Übergangsverwaltung, deren erster Chef General James Garner noch an eine Übergabe der Regierungsmacht binnen Dreimonatsfrist glaubte, nicht damit gerechnet, dass sie auf derartige Widerstände stoßen würde. Nicht aber „die Iraker“ sind es, denen es an Fähigkeit und Willen zur Demokratisierung fehlt, wie auch die gefürchtete „arabische Straße“ im gesamten Nahen Osten vernünftiger sein dürfte, als ihre Regierungen es vermuten lassen.

Immerhin glaubt laut der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen UNDP zufolge in den arabischen Staaten ein deutlich höherer Anteil der Bevölkerung als beispielsweise in Kontinentaleuropa, dass Demokratie die beste aller möglichen Regierungsformen sei. Die nahe liegende Frage, warum dennoch keiner dieser Staaten auch nur ansatzweise demokratisch regiert wird, verweist bereits auf das Dilemma der Befreier im Irak. Denn neben dem guten Willen vieler Einzelner bedarf es gesellschaftlicher Institutionen außerhalb der Regierung selbst, die in der Lage sind, den Willen dieser Einzelnen gegenüber der Staatsmacht auch durchzusetzen.

Dass es an derartigen Institutionen, an freier Presse, einer unabhängigen Justiz und einem selbstbewussten städtischen Bürgertum, wie überhaupt an Klassen als politischen Handlungsträgern, in allen Staaten des arabischen Nahen Ostens mangelt, ist nicht nur ein Grund dafür, dass sich diese starken Staaten allesamt da als besonders schwache Staaten entpuppen, wo es darum geht, islamistische Organisationen in den Griff zu bekommen, die im Windschatten eines Autoritarismus entstanden, der alle freiheitlichen Bewegungen selbst als imperialistisch oder zionistisch diffamiert.

Die vollständige Konzentration der Macht im Staatsapparat erklärt auch das Vakuum, das nach dem Sturz Saddam Husseins vor einem Jahr entstand. Denn der gestürzte Baath-Staat im Irak hatte praktisch keine gesellschaftlichen Strukturen zu hinterlassen, auf die sich die mehrheitlich gewünschte Demokratisierung auch stützen könnte. Mehr noch als in anderen arabischen Staaten hat es dort ein monolithischer Staatsapparat vermocht, alle Entscheidung im Zentrum der Macht zu bündeln und jede außerhalb dieses Zentrums stehende Gruppe, die eigene Entscheidungsgewalt beanspruchte, zu unterdrücken.

Als politisch relevante Klasse existierte einzig jene Staatsbürokratie, die am 9. April des vergangenen Jahres mitsamt der 62 Meistgesuchten über Nacht von der Bildfläche verschwand und ein Heer unzufriedener und verängstigter Untertanen hinterließ. Seitdem suchen die Amerikaner verzweifelt nach unabhängigen gesellschaftlichen Akteuren, die sich als Träger des Demokratisierungsprozesses eigneten und zugleich genug Macht besäßen, ihre damit verbundenen Interessen auch zu vertreten.

Was im Irak seit dem Sturz Saddam Husseins geschieht, scheint sich eher als symptomatisch für die Verfasstheit der arabischen Staaten des Nahen Ostens herausstellen als für eine möglicherweise falsche Besatzungspolitik. Deren größter Fehler bestand vornehmlich darin, auf eine Wiederholung dessen zu hoffen, was die US-Militärverwaltungen einst in Japan und Deutschland geschafft hatten.

Doch im Gegensatz zu Deutschland, wo dieselben Beamten, die wenige Tage zuvor noch mit einer Hakenkreuzbinde am Arm zur Behörde gingen, nach der Befreiung als Demokraten ihr Werk wieder aufnahmen, fanden sich diese geläuterten Technokraten im Irak nur vereinzelt. Denn weder gab es ein eigenständiges industrielles oder Finanzkapital noch einen Beamtenstand noch eine bürgerliche oder wenigstens feudale Klasse, die ohne den Staat existieren und dementsprechend ein Interesse anmelden konnten, zu ihren Geschäften zurückzukehren.

Das bestaunenswerte Phänomen, dass mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen in die irakische Hauptstadt das gesellschaftliche Leben praktisch zum Erliegen kam, ist das Resultat jener despotischen Herrschaftsweise, in der alle Bereiche der Gesellschaft von einem staatlichen Machtzentrum kontrolliert werden und Beamte wie Geistliche, Industrielle wie Bankiers, Journalisten wie Anwälte nicht ihre vornehmlich Eigeninteressen, sondern zuallererst die Macht des Staates vertreten. Der irakische Baathismus hat diese Form der Herrschaft lediglich auf die Spitze getrieben, das zugrunde liegende Problem aber ist in allen Gesellschaften der Region virulent.

So ist es weder ein Stratege aus dem Weißen Haus noch einer der vielen Nahostexperten, die eine kulturelle Unvereinbarkeit von Orient und Demokratie verkünden, dessen Thesen über die orientalische Gesellschaft sich nach dem Irakkrieg erneut bestätigt finden. Bereits 1954 veröffentlichte der marxistische Soziologe Karl August Wittfogel, dessen tiefe Abneigung gegenüber dem Stalinismus der Sowjetunion ihn auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Amerika führte, in den USA sein Werk über „die orientalische Despotie“, eine umfassende Analyse bürokratisch geführter Staaten des Orients

Den Ursprung despotischer Herrschaftsform sah Wittfogel in der hydraulischen Produktionsweise asiatischer Gesellschaften, die aufgrund schlechter klimatischer Bedingungen auf Bewässerungskanäle und Deichbauten angewiesen waren, um die landwirtschaftliche Produktion zu sichern. Im gleichen Maße, in dem nur die Kooperation vieler den Bau dieser Anlagen sicherte, erfordere die hydraulische Produktionsweise auch die Herausbildung einer planenden Funktionärselite, die zur herrschenden Klasse aufsteige.

Das wirklich Neue aber an Wittfogels Thesen war, dass er die Grundlagen früher Bürokratie und Verstädterung im Orient auch über die rein agrarischen Gesellschaften hinaus als Bedingungen gesellschaftlicher Organisation ansah, innerhalb derer die von einer zentralen Staatsbürokratie errichtete Macht nicht nur wirtschaftlichen Erfolg sicherte, sondern zugleich das Entstehen von Klassen und wirtschaftlichen Interessengruppen als eigenständige politische Machtzentren unterdrückte. Die Abhängigkeit von Kooperativ- oder Kollektivleistungen einerseits, von der zentralen Steuerung durch die bürokratischen Elite andererseits, habe dazu geführt, dass nicht nur die Rechte und Freiheiten des Einzelnen, sondern das Entstehen individueller Eigeninteressen überhaupt als gefährlich unterdrückt wurden. Innerhalb der hydraulischen Gesellschaft kennzeichnen daher „Beziehungen totaler Unterwerfung den Kern des bürokratischen Systems“.

Betrachtet man den Irak heute, so erhalten Wittfogels Thesen eine neue Aktualität. Von der monströsen Architektur, über die Herrscherbüsten Saddams bis zur Organisation der Wohlstandsverteilung erinnerte die gesamte Verfasstheit des gestürzten irakischen Staates an jene hydraulische Despotie, die Wittfogel dereinst beschrieb. Anstelle der Organisation der Bewässerung lediglich ist die zentrale Steuerung der Ölförderung und -vermarktung getreten, die dem irakischen Staat den notwendigen Reichtum bescherte, der nach Gunst verteilt oder zur Umsetzung von Kollektivprojekten wie der nationalen Aufrüstung verwandt wurde.

Alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens waren – auch dank der von der Baath-Partei betriebenen Verstaatlichung der Erdölförderung – der Steuerung und Kontrolle durch den Staat unterworfen. Wittfogels eigentliche Sorge aber galt der Freiheit des Einzelnen, die beständig beschnitten und unterdrückt werden muss, um die orientalische Despotie am Laufen zu halten. In ihrer konkreten Ausformung fuße sie daher immer auf Willkür und Terror. Während im Irak Politik als die Gestaltung gemeinschaftlicher Lebensverhältnisse exklusiv der Führung des Staatsapparates vorbehalten blieb, ergoss sich ein nicht enden wollender Strom ideologischer Deutungen und Begründungen über die Untertanen. Noch das unbedeutendste Ereignis schien eine verborgene Ursache zu haben und mit höchsten Staatsangelegenheiten verbunden, so wie in der Realität noch der kleinste Dorfvorsteher von der Baath-Partei eingesetzt wurde und nicht das Dorf, sondern deren Macht repräsentierte.

Wer aber in Konflikt mit den Trägern staatlicher Macht geriet, sah sich zugleich der ungeheuren Macht des gesamten Staatsapparats gegenüber. Denn wo wirklich alles als Angelegenheit des Staates gilt, kann es auch keinen Verstoß im Kleinen geben, der nicht zugleich einen Verrat am Gesamten bedeutete. Geriet also der Untertan in Konflikt mit den staatlichen Gewaltorganen, so öffnete sich gleichsam das Tor zu einer Hölle von Strafen und Qualen.

Die Untertanen einer orientalischen Despotie, „die im Schatten des totalen Terrors leben, müssen ihr Verhalten dem gemäß einrichten. Wenn sie am Leben bleiben wollen, dürfen sie das unbezwingbare Ungeheuer nicht herausfordern. Gehorsam wird die Grundlage guten staatsbürgerlichen Verhaltens.“ Mit Gehorsam allerdings ist eine Demokratisierung nicht zu schaffen.

Dies mag einen Hinweis geben darauf, woher die Diskrepanz rührt zwischen dem Wunsch vor allem der Jüngeren und Frauen in den arabischen Gesellschaften nach mehr Freiheit und der Realität ihrer Staaten, die seit Jahrzehnten jeden politischen Wandel verhindern. Der irakische Baath-Staat hat die despotische Herrschaftsform lediglich auf die Spitze getrieben, während es in der gesamten Region keinen einzigen arabischen Staat gibt, der nicht als starker Staat bemüht ist, alle Bereiche zu steuern und zu kontrollieren.

Es erklärt auch die ambivalente Reaktion vieler Iraker auf die Ereignisse seit der Befreiung, die von einem tiefen Misstrauen gegenüber der Übergangsverwaltung und der Erwartung zugleich geprägt ist, diese möge alles zu einem Guten wenden.

Weitgehend unbeachtet von der internationalen Presse haben sich im Irak dennoch tief greifende Veränderungen bereits vollzogen. Auf lokaler Ebene bilden sich jene Strukturen heraus, die der Baath-Staat über Jahrzehnte zu unterdrücken suchte. Frauen, Arbeitslose und ehemalige Häftlinge organisieren sich, Kommunen geben sich eine eigenständige Vertretung, die sich um die Wahrung ihrer Interessen bemüht. Was vielfach als Schwäche gewertet wird, könnte sich langfristig als eine Stärke der irakischen Entwicklung herausstellen; dass nämlich anstelle einer einheitlichen staatlichen Organisation der Gesellschaft viele Machtzentren entstehen, denen es unabhängig von zentraler Lenkung und Kontrolle um die Durchsetzung eigener Interessen gelegen ist.

Nicht zuletzt der kurdische Nordirak verfügt längst über eigenständige Verwaltungsstrukturen, die sich einer zentralen Steuerung entziehen. Was sie für eine Demokratisierung so wertvoll macht, den Kern einer Gesellschaft zu bilden, innerhalb derer politische Macht vielzentrig verteilt ist, stellt zugleich ihre Schwäche dar. Sie eignen sich genauso wenig als nationale Parteien, wie für die avisierte Übernahme zentralstaatlicher Kontrolle durch die Iraker selbst, die als Königsweg der Befriedung gehandelt wird.

Der Funke Wahrheit, den der deutsche Pessimismus gegenüber einer Demokratisierung des Irak enthält, liegt darin, dass es sich tatsächlich um ein Projekt handelt, das nicht binnen weniger Monate abgeschlossen sein wird. Denn nichts weniger müsste in Frage gestellt werden, als die Grundlage nahöstlicher Despotie überhaupt, die in der Konzentration aller Macht in einem bürokratischen Staatsapparat liegt. Eine vielzentrige Gesellschaft aber setzt die Existenz von Institutionen, Gruppen und nicht zuletzt auch Klassen voraus, deren Entstehung im arabischen Nahen Osten über Jahrhunderte verhindert wurde.

Dies wirft die Frage auf, wie es sich mit der ersten These verhält, dass Befreiung nicht von außen kommen könne. Wittfogel hatte darauf eine einfache Antwort, die sich gegen den verbreiteten Determinismus wandte, wonach die kapitalistische Modernisierung sukzessive auch die Gesellschaften in die kulturelle Moderne reiße. Weil sich in der orientalischen Despotie die staatsbürokratische Klasse als Elite behaupte, blieben die „blinden Kräfte des Kapitals“ wirkungslos. Änderung und Befreiung könne daher nur von außen kommen oder sie bleibe das, was politischer Wandel in der Despotie immer bedeutete – dem Austausch der Staatselite als Ergebnis von Intrige oder Staatsstreich.