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Archiv-Artikel

Verzweifelt gesucht: Manuel

Vor zehn Jahren verschwand der 12-jährige Manuel Schadwald. Er wurde angeblich in Bordellen und Pornos gesehen, doch das erwies sich als falsch oder unseriös. Die Polizei hat bis heute keine Spur

von KIRSTEN KÜPPERS

Das, was man weiß, ist fast nichts. An einem Sommertag im Juli verlässt ein 12-jähriger Schüler in Tempelhof die Wohnung. Er will mit der S-Bahn ins Freizeit- und Erholungszentrum Wuhlheide (FEZ) nach Köpenick fahren. Der Junge sieht aus wie ein ganz gewöhnlicher Junge. Er hat dunkle Haare, trägt Jeans, T-Shirt und einen türkisfarbenen Rucksack mit der Aufschrift „Miami Vice“. Und hier hört es beinahe auch schon auf mit dem wenigen, was man weiß. Der Junge ist nie in der Wuhlheide angekommen. Er ist auch nicht nach Hause zurückgekehrt. Er ist überhaupt nirgendwo mehr aufgetaucht. Der Name des Jungen ist Manuel Schadwald. Er ist verschwunden, er ist einfach weg.

Seit zehn Jahren wird Manuel jetzt vermisst. Am 24. Juli 1993 ist er aus dem Haus gelaufen und wurde nicht wieder gesehen. Man kann heute bei der Vermisstenstelle der Polizei fragen, wo Manuel Schadwald abgeblieben ist. Aber auch da stößt man zunächst nur auf unbefriedigende Informationen. Am ehesten löst der Name Manuel Schadwald bei der Polizei noch Abwehrmechanismen aus. Die Beamten seufzen laut ins Telefon. Sie sagen, dass sie nicht zuständig sind. Sie sagen, dass es nichts Neues gibt. Sie verbinden genervt weiter.

„Das liegt an den, nennen wir es: traumatischen Erfahrungen, die wir mit dem Fall Schadwald gemacht haben“, erklärt der letzte Mann in der Telefonkette. Er heißt Jochen Sindberg und leitet das Polizeireferat „Delikte am Menschen“. Er ist der Chef der vielen Kollegen, die sich in den letzten zehn Jahren mit Manuels Verschwinden beschäftigt haben. Die Polizei hatte eine Menge Ärger mit dem Fall. Er hat diverse Stationen des Apparats durchlaufen, etliche Abteilungen, unterschiedliche Sachbearbeiter. Die Akte Schadwald füllt mittlerweile etwa 15 Leitz-Ordner.

Angefangen hat sie mit einem Blatt Papier. Eine Vermisstenmeldung. Ein Polizeibeamter hat sie am Abend des 24. Juli 1993 aufgenommen. Da war Manuel Schadwald noch keineswegs ein Name, der bei irgendeinem Polizisten eine Regung hervorruft. Er war ein Junge, der nicht nach Hause gekommen ist. Ein Routineereignis, nichts Ungewöhnliches in einer Großstadt.

Allein im Jahr 2002 sind in Berlin 4.266 Kinder und Jugendliche sowie 3.533 Erwachsene verschwunden. Fast alle dieser Fälle werden aufgeklärt. Jedes Jahr bleiben nur etwa 5 Personen unbekannt vermisst, gibt die zuständige Dienststelle der Polizei an. Und selbst diese Zahl spiegelt nicht die tatsächlichen Verhältnisse wider, heißt es weiter. Werden Menschen etwa als Opfer von Segelunfällen oder Bergunglücken für tot erklärt, bleiben sie in der Vermisstenstatistik, bis die Leichen geborgen werden können. „Die Zahl der tatsächlich dauerhaft in Berlin Vermissten ist also noch weitaus niedriger“, gibt die Behörde an.

Als Marion Schadwald, die Mutter von Manuel, an jenem Abend anrief, ist ein Polizeiwagen zu ihr nach Tempelhof gefahren. Die Eltern des Jungen leben getrennt. Die Beamten fragten die Mutter, ob es einen Grund gab für das Verschwinden: einen Streit oder ein schlechtes Zeugnis. Dann müsse sie sich weniger Sorgen machen, erklärten die Polizisten. Kinder, die von zu Hause abhauen, tauchen in der Regel wenig später wieder auf. Man muss nicht damit rechnen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Aber bei Manuel gab es keinen Grund. Die Mutter machte sich Sorgen. Die Polizei nahm die Ermittlungen auf.

Nach zehn Tagen gab die kriminalpolizeiliche Abteilung des örtlichen Polizeireviers den Fall weiter an die Vermisstenstelle. Deren Leiter ordnete an, was seine Dienststelle im Falle eines vermissten Kindes immer tut. Er schickte seine Mitarbeiter los. Neue Beamte fragten nun in Kaufhäusern nach. Manuel, das hatte die Mutter erzählt, hatte oft ganze Nachmittage in Kaufhäusern an Computern gespielt. Einzelne Verkäuferinnen konnten sich tatsächlich an den dunkelhaarigen Jungen erinnern. Sie wussten allerdings nicht, ob Manuel auch an besagtem 24. Juli bei ihnen gewesen war.

Die Polizisten befragten Klassenkameraden, sie fragten im FEZ in der Wuhlheide nach. Sie versuchten den Weg nachzuvollziehen, den der Junge am Tag seines Verschwindens gegangen war. Sie veröffentlichte ein Foto. Die Polizei suchte überall. Sie fand nichts. Sie hatte nicht einmal eine Spur.

Jahre vergehen. Die Mutter rechnet, jetzt wäre ihr Sohn 14, 15, 16 Jahre alt. Sie zählt die Zeit zusammen, als das Ungeheuerliche geschieht. Im November 1997 berichtete die Berliner Morgenpost von Hinweisen, wonach Manuel in die Fänge eines organisierten Kinderhändlerrings geraten ist. Die beiden Reporter berufen sich auf Zeugen aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Diese erklären, dass der Junge in einem Bordell in Rotterdam missbraucht werde. Seine Mutter beginnt wieder zu hoffen, irgendeine Möglichkeit ist besser als nichts. Eine Idee, an der man sich festhalten kann, wenn nachts der Kopf zu voll ist zum Schlafen und am Tag die Stadt weiterläuft, als sei nichts geschehen.

Die Polizei ist einigermaßen erschrocken über die Möglichkeit. Die Vermisstenstelle übergibt den Fall der Stelle für Kinderpornografie. Die Beamten überprüfen die Angaben der Morgenpost. Sie vernehmen Informanten aus dem Päderastenmilieu. Es reicht nicht.

Die Morgenpost wirft der Polizei vor, sie ginge den Hinweisen nicht in genügendem Maß nach. Berlin spiele eine Hauptrolle in einem weltweiten Kinderporno-Netzwerk. Die Sache schaukelt sich hoch. Die Verdächtigungen werden immer abenteuerlicher. Eine niederländische Zeitung berichtet, Manuels Vater habe seinen Sohn selbst entführt und in die niederländische Homosexuellenszene eingeschleust. Zwar wird der Vater von diesen Vorwürfen schnell entlastet, dafür wird er im Juli 1998 in einer Talkshow von einem Bürgerrechtler als Stasi-Mitglied beschimpft.

Die Morgenpost schreibt, die Polizei verschleppe bewusst die Ermittlungen. Zeugen, die reden wollten, würden mit Drohungen zum Schweigen genötigt. Von einem „regelrechten Feldzug der beiden Morgenpost-Reporter gegen die Polizei“, spricht Sindberg. Die Beamten bekommen Druck von oben. Der Polizeipräsident will wissen, was los ist.

Ein Polizeibeamter reist daraufhin in die Niederlande. Die Polizei vernimmt auch Marcel Vervloesem, den Sprecher der belgischen Bürgerinitiative „Werkgroep Morkhoven“. Die Bürgerinitiative hatte den niederländischen Kinderporno-Ring aufgedeckt und zahlreiche Videos sichergestellt. Die deutschen Beamten fragen, ob Vervloesem bei seinen Nachforschungen auf den Namen Manuel Schadwald gestoßen sei. Auch der Hauptverdächtige des Kinderschänderskandals wird auf Veranlassung der deutschen Behörden zu dem vermissten Jungen befragt. Die Berliner Polizei lädt die beiden Morgenpost-Reporter aufs Revier. Sie überprüft alle von ihnen zitierten Quellen.

Das Ergebnis: „Die Hinweise zu möglichen Verbindungen Manuels zur Homosexuellen- beziehungsweise Kinderpornoszene in den Niederlanden beziehungsweise Belgien konnten nicht verifiziert werden“, sagt Jochen Sindberg. „Alle Informationen, die es in diese Richtung gegeben hat, haben sich als unseriös oder unrichtig herausgestellt.“ Durch einen Berg unbrauchbaren Beweismaterials hat sich die Polizei gearbeitet: Pornovideos, auf denen Manuel zu sehen sein soll, waren Jahre vor seinem Verschwinden entstanden. Der Manuel, den die mutmaßlichen Insider im Strichermilieu gesehen hatten, war ein anderer Junge. Der letzte Informant, den die Morgenpost noch in diesem Frühjahr präsentiert hat, entpuppte sich als verwirrter Querulant. „Solche Sachen“, sagt Sindberg. Er klingt ziemlich sauer.

Nun steht die Akte Schadwald bei der Mordkommission. Die Polizei glaubt mittlerweile, dass der Junge Opfer eines Gewaltverbrechens geworden ist. „Ansonsten hätte er sich irgendwann gemeldet“, sagt André Rauhut, „oder wir hätten zumindest eine winzige Spur von ihm gefunden.“ Rauhut ist jetzt zuständig für den Fall, er ist der Leiter der Mordkommission. Man kann ihn in seinem Büro besuchen. Breitbeinig und ein wenig nervös lenkt einen der 41-Jährige zum Besprechungstisch. Wenn er da gefragt wird, was schief gelaufen ist im Fall Schadwald, antwortet er: „Man hat sich zu schnell auf diese Kinderporno-Geschichte gestürzt. Vielleicht hätte man früher in andere Richtungen ermitteln sollen.“ Er hebt die Hände, wer kann das schon wissen.

Die Polizei hat aus der Sache gelernt. Mordkommission und Vermisstenstelle arbeiten jetzt gleich bei einer Vermisstenmeldung eng zusammen. Rauhut und seine Kollegen können dadurch schneller reagieren. Innerhalb kürzester Zeit können sie ein Heer von Mitarbeitern ausschwärmen lassen, mit Suchhunden fahnden, Hubschrauber bestellen, Wärmebildkameras beim Bundesgrenzschutz anfordern – was der Polizeiapparat für die Suche nach einem verschwundenen Menschen eben bereithält.

Ob das unmittelbar nach Manuels Verschwinden etwas genutzt hätte, Rauhut kann es nicht sagen. Gerade geht ein Sachbearbeiter noch einmal alle Aktenordner durch. DNA-Material des Jungen wird mit allen Daten einer bundesweiten Gen-Datei abgeglichen und überprüft. Schon mehrmals wurden Manuels Daten in dieses System eingegeben. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass jetzt etwas Neues herauskommt. „Der Vorgang gibt einfach keine übersehene heiße Spur her“, sagt Rauhut. Er hebt noch einmal die Hände. Es sieht ziemlich hilflos aus.

Heute vor zehn Jahren ist Manuel verschwunden. Es bleibt ein Vermisstenfoto des Jungen auf der Internetseite der Polizei. Und eine Mutter, die jeden Tag an ihren verloren gegangenen Sohn denkt. Sie wolle nie wieder mit der Presse sprechen, sagt Marion Schadwald am Telefon.