: Pflanzlich in den Tod getrieben
Heute beginnt vor dem Schwurgericht in Paderborn ein Prozess gegen ein veganes Elternpaar: Sie sollen ihren 16 Monate alten Sohn verhungert haben lassen. Die Anklage lautet auf Totschlag
VON HUBERTUS GÄRTNERUND JUTTA STEINMETZ
Veganer meinen es gut. Sie verzichten nicht nur auf Fleisch und Fisch, sondern generell auf tierische Produkte. Veganer essen keine Eier und trinken keine Milch. Sie tragen keine Lederhosen und meiden Wollpullover. Nicht mal einer Mücke tun sie etwas zu Leide.
Heute wird die vermeintliche Tierliebe zum Gegenstand eines Schwurgerichtsprozesses in Paderborn. Angeklagt ist ein Elternpaar aus Bad Driburg (Kreis Höxter). Es soll für den Hungertod seines 16 Monate alten Sohnes Leon verantwortlich sein. Weil die beiden Angeklagten Verfechter einer strengen veganen Lebensführung sind, sorgte der Fall bundesweit für Schlagzeilen.
Die gelernte Krankenpflegerin Annette H. (36) und der Schreiner Franz-Josef H. (44) hatten 1996 damit begonnen, ihre Ernährungsweise total umzustellen. Ab sofort kam nur noch Pflanzliches auf den Tisch. Annette H. misstraute auch der Schulmedizin. Während ihrer Schwangerschaften suchte sie keinen Frauenarzt auf. Ihre drei Kinder Tom, Joe und Leon brachte sie im Juni 1998, August 2000 und November 2002 ohne Hebamme per Hausgeburt zur Welt.
„Bei den Angeklagten war alles überspitzt“, sagt der Paderborner Staatsanwalt Ralph Vetter. Er führte die Ermittlungen. Auch die drei Kinder Tom, Joe und Leon wurden von ihren Eltern strikt vegan ernährt. Zu ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen durften sie nicht.
Im Sommer 2003 war der Besucherin eines Freibades das relative Untergewicht der Kinder aufgefallen. Mit der Bitte, der Familie zu helfen, wandte sich die Frau ans Jugendamt. Als dessen Vertreter daraufhin die Angeklagten aufsuchte, wiesen diese jedes Hilfsangebot empört zurück. Sie verteidigten ihre vegane Lebensweise und gaben an, dass sie bei der Versorgung ihrer Kinder das tierische Eiweiß angemessen ersetzen würden. Weil die Kinder zu diesem Zeitpunkt gesund waren und die Familie harmonisch schien, sah das Amt keinen Anlass einzugreifen.
Ernährungswissenschaftler bezweifeln jedoch, ob strenge vegane Ernährung für Kinder das Richtige ist. Es handele sich um eine „Fehl- und Mangelernährung“, sagt Mathilde Kersting vom Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung. Unverzichtbare Eiweißbausteine in Form von essenziellen Aminosäuren, Kalzium, Jod, Eisen und einige Vitamine nehme der Mensch hauptsächlich über tierische Lebensmittel zu sich. Eine vegane Ernährung könne deshalb für keine Bevölkerungsgruppe empfohlen werden, sagt Kersting. Bei Säuglingen und Kindern sowie bei Schwangeren und Stillenden müsse sogar „besonders davor gewarnt werden“, da sonst schwerste Schäden möglich seien.
Das Drama in Bad Driburg nahm seinen Lauf, als der jüngste Sohn Leon im Februar dieses Jahres an einer Bronchitis erkrankte. Leon magerte von 7,2 auf vier Kilogramm ab. Obwohl sein Zustand sich dramatisch verschlechterte, suchten die Eltern keinen Arzt auf. Leons Tod trat schließlich am 5. März ein. Bei der Obduktion wurde festgestellt, dass das Kind an Unterernährung und extremer Austrocknung verstorben war. Es hatte offenbar seit Tagen nichts mehr gegessen und getrunken. Die Anklage vor dem Paderborner Schwurgericht lautet auf Körperverletzung mit Todesfolge. Die Eltern hätten die Versorgung ihres Kindes „nicht böswillig“ unterlassen, sagt Staatsanwalt Vetter. Das Problem sei wohl eher ihre Verbohrtheit und Verblendung.
Annette H. und Franz-Josef H. wollten noch kurz vor Leons Tod seltene Kokosnüsse der Marke „Pagode light“ kaufen, um mit deren Milch das Leben ihres Sohnes zu retten. Dazu kam es nicht mehr. Im August hat Annette H. nun ein weiteres Kind geboren. Das Familiengericht in Brakel im westfälischen Kreis Höxter lehnte es ab, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen. Das Jugendamt muss nun regelmäßig bei der Familie vorbeischauen. Es gebe „keinen Anlass zu Beanstandungen“, sagt Jugendamtsleiter Manfred Kleine. Annette H. und Franz-Josef H. sollen ihre Ernährung jetzt teilweise umgestellt haben.