: Auferstanden aus Wortruinen
WAS BLEIBT „100 Gedichte aus der DDR“ – vom heiligen Nonsens der Lyrik in einem untergegangenen Land
■ Die Sammlung „100 Gedichte aus der DDR“ wurde von Christoph Buchwald und Klaus Wagenbach herausgegeben und ist soeben im Wagenbach Verlag Berlin erschienen. Sie hat 160 Seiten und kostet 16,90 Euro
■ Unser Autor Jochen Schmidt ist 1970 in Ostberlin geboren, lebt in Berlin und ist Schriftsteller und Journalist. Zuletzt erschien sein Band „Schmidt liest Proust“ (Verlag Voland & Quist) Foto: Verlag
VON JOCHEN SCHMIDT
Wer sind die 59 Autoren dieser 100 Gedichte? 15 Nationalpreisträger, 15 Absolventen des Leipziger Literaturinstituts, 18 Autoren, die irgendwann in den Westen ausgereist sind. Neben einigen ehemaligen Germanistik- oder Psychologiestudenten herrschen ungewöhnliche Berufe vor. Leichenträger, Werbetexter, Tiefbauarbeiter, Handelskaufmann, Elektronikfacharbeiter, Hochfrequenztechniker, Kugelschreibermonteur, Dreher, Traktorist, Bauarbeiter, Dekorationsmaler, Blumenbinderin. Das macht neugierig, man möchte sich aus diesen Erfahrungswelten gerne erzählen lassen. Leider spiegelt sich, wie so oft bei Lyrikern, davon in den Gedichten nicht viel wider. Ob es an der Auswahl liegt?
Die Texte sind in größere Themenfelder eingeteilt: „Auferstanden aus Ruinen“ (die „Herren“ waren „verjagt worden“), „Das Aufbegehren und die Macht“, „Die Geräusche meines Lands“ (schön, wie Uwe Kolbe das Leben in der späten DDR zusammenfasst: „Genießend unter Kraftaufwand / die uns gebotne Sicherheit“), „Proben des Grenzfalls“ und einige Beispiele aus dem Genre „Epilog auf die DDR“, als die Herren wieder da waren.
Jürgen Rennert beschreibt, wie sich viele fühlten: „Mein Land ist mir zerfallen. Sein’ Macht ist abgetan. / Ich hebe, gegen allen / Verstand, zu klagen an.“ Sozusagen die Frage: Wie kam der Osten in meinen Kopf? Oder Volker Braun über das verschwundene Volkseigentum. „Ist denn das Unannehmbare / Am Eigentum das Volk / Von dem es befreit werden muß wie von einem Aussatz“. Es regen sich bei so etwas aber doch Zweifel, ob Literatur solchen Themen gewachsen sein kann.
Gedichte hatten in der DDR offiziell einen hohen Stellenwert. Man gab sich ja gern gediegen. Der Staat hatte schon mit einem Gedicht begonnen, im Grunde einem der besten Texte aus dieser Sammlung, der Nationalhymne der DDR, geschrieben von einem drogensüchtigen Autor, Frauenmörder und opportunistischen Kulturfunktionär: „Auferstanden aus Ruinen“. Für die Eröffnungsfeier des Palasts der Republik war eine Ode in Auftrag gegeben worden, in der die Leistung der Bauarbeiter gewürdigt wurde. An den Kiosken lagen die Poesiealbum-Hefte (allerdings selten die begehrteren Ausgaben, wie die mit Texten von Thomas Brasch.) Die Junge Welt druckte wöchentlich Gedichte von Nachwuchslyrikern, die darauf hoffen konnten, ins jährliche Poetenseminar eingeladen zu werden.
In den Zirkeln schreibender Arbeiter muss eine skurrile Atmosphäre geherrscht haben. Den Vorsitz hatte meist ein Arbeiter, der schon publiziert hatte. In der Kneipe rezitierte er dann unter Alkoholeinfluss seine expressionistische Lyrik, die er lieber als die geforderte Aufbaulyrik schrieb (so hat es die Autorin Annett Gröschner erlebt).
Die Schrift hatte in der DDR etwas Heiliges. Was einmal gedruckt war, war ja zitierbar, darauf konnte man sich in Diskussionen berufen. Die Partei hatte es beglaubigt, also konnte es nicht konterrevolutionär sein. Deshalb waren sie so neurotisch darauf bedacht, nichts unbemerkt durchzulassen. Aber schon in der Hymne hieß es „Deutschland einig Vaterland“, eine später undenkbare Formulierung. Nicht jeder hatte das geschmeidige Bewusstsein der Parteimitglieder, für die es sich von selbst verstand, dass sie am Morgen noch nicht sagen durften, was die Partei erst am Abend für richtig befinden würde.
Die Last der „Stellen“
Die Stasi hat sich als eifriger Lyrikleser betätigt und hatte besonders mit den späteren, avantgardistischeren Textformen ihre Schwierigkeiten. Man wusste ja nicht, ob sich in dem unübersichtlichen Wortgebräu eine chiffrierte Botschaft versteckte. Es gab den Fall eines Uwe-Kolbe-Gedichts aus einem Band von 1981, das sich zwar im Titel als Akrostichon ausgibt, aber offenbar hatte der Zensor trotzdem nicht bemerkt, dass die Anfangsbuchstaben von oben nach unten gelesen ergeben: „Freude ist Aufruhr“. Von der Last, solche „Stellen“ zu transportieren, sind die Texte heute befreit. Können sie nun literarisch wirken, wo sie ihre gesellschaftlich-politische Funktion eingebüßt haben?
Oft ist der Adressat das Land, die Jugend, die kommenden Generationen. Paul Wiens hat 1953 einen Text „Den Siebenjährigen“ gewidmet. Würde man sich heute als Autor noch lyrisch an die Bundesrepublik richten? „Unsere Enkel werden uns dann fragen.“ Natürlich fragen die Enkel in Wirklichkeit gar nicht. Das auftretende Personal der Texte überrascht wenig: Trotzki, Isaak Babel, „die Toten“, Villon, Marx, Rosa Luxemburg. Die Orte, von denen man liest, klingen angenehm heimatlich: Dresden, Schmuggerow, Meißen, Leipzig, „andernorts“ heißt der Westen.
Auffällig ist, dass eine große Zahl der Autoren stark von Brecht beeinflusst war. Diese nachgeahmte Brecht-Diktion hat ja schon bei Brecht selbst genervt. Das sachlich-gestelzte, diese behauptete Sinnenfreude, die sich dann an so etwas wie „Fleischtöpfen“ festmacht. Der Ton zieht sich durch etliche Texte. Bei Heiner Müller: „Den Schritt verfluchend gingen sie den Weg“, oder „Die in der Kunst des Nehmens nicht / Geübten nahmen da das ihre in / Besitz nur zögernd“. Besonders natürlich beim holprig reimenden Biermann. Diese von Villon geklaute Kraftmeier-Pose des Autors gegenüber der Macht. Zu selten wird an den Ton der „Buckower Elegien“ angeschlossen. Man freut sich über einen einzelnen starken Gedanken bei Richard Pietraß „Die Schattenalge“: „Unbeirrbar sich vermehrend, wächst sie / vom Ende der Welt auf uns zu“. Aber dann wieder zeitloses Lyrik-Kauderwelsch „über die lehmhügel klabastern ungeschlachte blechvögel“ (Wulf Kirsten).
Das Schlachtfeld der DDR, vor allem in den Filmen, war ja die Baustelle. Aber nicht alle Autoren haben über den Aufbau schreiben wollen. Die jüngst verstorbene Christa Reinig schreibt 1963: „ich rede wie die irren reden / für mich allein und für die andern blinden / für alle die in diesem Leben / nicht mehr nach hause finden“. Stark, wie Franz Fühmann das Abgründige an den Märchen beschreibt. Ein ganz anderer Erfahrungsraum, der eigentlich bei einer sozialistischen Persönlichkeit keine Rolle mehr spielen sollte. (Wie ja überhaupt die Psyche offiziell abgeschafft war.)
Hans-Eckart Wenzels Ton hat überlebt. Der Text von Helga M. Novak über ein Frauenschicksal unter Stalin macht neugierig. Das angenehm Unheilige von Sarah Kirsch, ein Trennungstext: „Ich ging / den Gerüchten nach im Land die / gegen ihn sprachen“. Oder die wunderbare Elke Erb: „Ich war mal in Tüschen, dort sah / mich still eine Gans an, die in Reihe ging, weiß / an einer feuchten Scheune vorbei“. Katja Lange-Müller über einen Broiler-Imbiss: „Da kommen sie rein, Huhngier im Blick“. Jurek Becker, der bestimmt nicht viele Gedichte geschrieben hat, über eine Betrogene: „Dort heulte sie die halbe Nacht ins Kissen, / Denn er war immerhin ihr erster Mann. / Sie fragte sich, ob sie bei Hindernissen / Von solcher Größe weiterleben kann“.
Wenn es sich reimt, kann man als Laie doch eher beurteilen, ob der Text etwas taugt. Richard Leising fasst in einem einzigen Vers das Versagen der DDR zusammen: „Zu einem richtigen Arbeiterstaat / Gehört ein richtiger Kartoffelsalat“. Und Peter Hacks die Perspektiven nach der Wende: „Sehn wir nachher beim Glenfiddichtrinken / Hinterm Dachfirst die Epoche sinken.“
Die letzten Jahre der DDR waren eine große Zeit für Nonsens und surreale Sinnverweigerung. Die offizielle Sprache war ja selbst nur noch dadaistisch zu verstehen, der Unsinn in der von allen Seiten auf einen einprasselnden „sinnvollen Rede“ war so quälend, dass Nonsens etwas Befreiendes hatte.
Regelmäßig wurde in Klubs und Kirchen öffentlich die „Sonate in Urlauten“ aufgeführt, man rief begeistert: „Pögiff!“ Und wie wir zur einzigen Lesung Ernst Jandls pilgerten, der volle Saal der Ostberliner Akademie der Künste, und vorne dieser kleine Mann mit seinem Humor. Unter uns Abiturienten war seine Lyrik-Vorlesung „Das Öffnen und Schließen des Mundes“ populär: „Ottos Mops kotzt“. Aber ebenso beliebt war Otto mit „Ihnen wird zur Last gelegt, sie hätten an dem Mast gesägt“.
Das lernte man viel lieber auswendig als die vielen Gedichte in der Schule. Beim Abitur durften wir uns ein Gedicht aus dem Lesebuch aussuchen. Zwei Drittel der Klasse lernte Brechts „Das kleine Haus unter Bäumen am See“, weil es am kürzesten war. Die Lehrerin verteilte reihenweise schlechte Noten, einen kurzen Text zu rezitieren sei viel schwerer als einen längeren. Eine wichtige künstlerische Lektion.
Eigenartig, dass es mir auch heute noch peinlich wäre, in der S-Bahn einen Gedichtband zu lesen. Es wirkt so müßiggängerisch, fast arrogant. Die Lyrik diskreditiert sich eben immer wieder selbst. Stephan Hermlin in einem Text über die Asche von Birkenau: „Waren des Lebens voll / Liebten die Dämmerung, die Liebe / Den Drosselschlag, waren jung“. Warum muss man in Gedichten immer solche Stellen schlucken? Vielleicht liebten sie ja nicht den Drosselschlag, sondern Radiomusik und Schnitzel mit Nudeln?
Mein Lieblingsgedicht aus der DDR ist leider nicht enthalten. Sein Adressat sind nicht die Toten oder die künftigen Generationen, und es enthält keine versteckte politische Botschaft, sondern einfach eine Bitte. Es stammt von Sarah Kirsch: „Liebe Ameise / bitte unternimm keine Reise / in unseren Schrank / wir wüßten keinen Dank / wir müßten Pulver streuen / du würdest es bereuen.“