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Archiv-Artikel

Der rasende Stillstand

GESCHWINDIGKEITSRAUSCH Der Kritiker der Mediengesellschaft Paul Virilio beschäftigt sich mit der Beschleunigung der Realität. Nun ruft er dazu auf, uns vom Fortschrittsgedanken zu lösen

VON CHRISTOF FORDERER

Paul Virilio ist der Erfinder der „Dromologie“: einer Kulturtheorie, die die Geschichte der Menschheit unter dem Gesichtspunkt der diversen Revolutionen der Beschleunigung neu schreibt. In den Anfangsjahren des Internets hatte er einst Entwicklungen, die sich gerade erst abzeichneten, antizipiert. Mittlerweile ist der französische Philosoph ein recht alter Herr, und böse Zungen behaupten, der einstige Prophet sei in seinen neueren Publikationen nur noch ein Epigone seiner selbst.

Auch wenn das jetzt auf Deutsch erschienene Buch „Der große Beschleuniger“ sicherlich viele bekannte Thesen wiederholt und wie gewohnt eine kassandrahaft alarmistische Grundtonart wählt, bietet es eine interessante Anwendung des „dromologischen Blicks“ auf Probleme der Jetztzeit: Finanzkrise, Deregulierung der Arbeitswelt, Flüchtlingsströme, Massentourismus, Krise der Demokratie, Krise der Familie.

Reglos und lichtsensibel

Das Leitmotiv ist Virilios These, dass das nahezu erreichte paradoxe Endstadium der Geschichte der Beschleunigung ein Zustand des „rasenden Stillstands“ sein wird. Nachdem die Menschheit zunächst durch die Domestizierung des Pferdes, dann durch die Erfindung von Eisenbahn, Auto und Flugzeug immer mächtiger wurde, wird die neueste Steigerung von Beschleunigung – das Erreichen von Echtzeit dank der Übertragungstechnologien – eine neue Ohnmacht zur Folge haben. Nach jahrtausendelangem Beschleunigungsfortschritt droht eine totale Regression: Reglos dasitzend und lichtsensibel auf das Geflimmer auf dem Bildschirm reagierend, wird der künftige Mensch als Hybride von Pflanzen vegetieren.

Exemplarisch für den „Unfall der Unfälle“, dem wir uns annähern, ist für Virilio die aktuelle Finanzkrise. Seine Ursachenanalyse ist denkbar einfach: Die Weltwirtschaft ist am Zusammenbrechen, weil seit dem Start der Vernetzung der Märkte durch die City of London im Jahre 1987 (dem „Big Bang des Program Trading“) das Börsengeschehen „zu schnell, um ehrlich zu sein“, abläuft. Beim flash trading hat die Börsenwelt endgültig die „Mauer der Zeit“ überschritten: Hochleistungsrechner, die über die „Angriffskapazität eines Atomschlags“ verfügen, kalkulieren in Nanosekunden das gesamte Börsengeschehen durch und ordern eigenständig Verkaufs- oder Kaufaufträge.

Da eine unbeeinflussbare „Maschinenzeit“ ohne „Chrono-Diversität“ (ohne Auseinanderfaltung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) über Milliardenbeträge entscheidet, ist der Crash unvermeidlich. Die Folge: Die Börsianer, die sich an eine außermenschliche Zeit ausgeliefert haben, verlieren alles Vertrauen an die ihnen entgleitenden Märkte. Als letzter Avatar der Säkularisierung verbreitet sich ein „Monoatheismus“: der Unglaube an die Zukunft der Weltwirtschaft. Seitdem dümpelt, wie wir täglich neu erfahren, die Ökonomie im Credit Crunch vor sich hin.

Unfall des Wissens

Neben dem Zusammenhang von Credit Crunch und Nanosekunden ist das zweite Leitmotiv des Buchs der titelgebende Large Hadron Collider in Genf. Was beim flash trading der in Nanosekunden erfolgende „Blitzkrieg“ auf den Aktienmärkten ist, ist im Hadronenkollidierer die Beschleunigung von Partikeln bis nahezu Lichtgeschwindigkeit (Virilio teilt mit Oswald Spengler, einem anderen Spezialisten in Sachen Zivilisationsuntergang, das Talent, in heterogenen Phänomenen den gleichen epochentypischen Grundzug hervorscheinen zu lassen).

Das Risiko bei dieser zweiten Überschreitung der „Mauer der Zeit“ ist ein „Unfall des Wissens“: Die unanschauliche „Schleifenquantengravitationstheorie“ der modernen Physik hat für Virilio nichts mehr mit Rationalität zu tun. Die Hoffnung der Partikelbeschleuniger, durch Annäherung an Lichtgeschwindigkeit das „Gottesteilchen“ identifizieren zu können, ist nichts anderes als ein neuer heidnischer „Lichtkult“ (wobei statt Strahlen Strahlungen Heilsbringer sein sollen).

Virilio hat erneut einen anregenden Text geschrieben, der allerdings darunter leidet, dass ausgerechnet der Verfechter der Langsamkeit als Satzformulierer hemmungslos der von ihm sonst so geächteten Leidenschaft für Geschwindigkeit verfällt. Flinke Gedankenassoziationen und wendige Wortspiele liebt er wie ein Porschefahrer sein Gaspedal. Mehr als einmal gelingt es dem Philosphen, auf der Rennbahn seiner überlangen Sätze die Schallmauer der Verständlichkeit zu durchbrechen.

Es ist kein Zufall, dass zumindest im deutschsprachigen Diskurs mittlerweile meist nicht der irrlichtende Virilio, sondern der solide Hartmut Rosa herangezogen wird, wenn es um den Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und moderner Gesellschaft geht.

Paul Virilio: „Der große Beschleuniger“. Aus dem Französischen von Paul Maercker. Passagen Verlag, Wien 2012, 88 Seiten, 11,90 Euro