: Der Bruder, der stille Beobachter
AUS DARMSTADTBARBARA BOLLWAHN
Wenn Marcus Kasner Bus fährt, in der Kantine zu Mittag isst oder im Supermarkt an der Kasse steht, dann kann es passieren, dass Menschen in seiner Gegenwart ganz ungeniert über seine Schwester lästern. Über ihre Frisur, ihre Kleidung, ihre Mundwinkel. Böse Absichten kann man niemandem unterstellen. Sie wissen nicht, dass er der Bruder der Frau ist, über die sie gerade reden. Rein äußerlich ist das nicht zu erkennen.
Marcus Kasner ist der drei Jahre jüngere Bruder von Angela Merkel und ebenso wie ihre zehn Jahre jüngere Schwester nur eine Fußnote in der Biografie der bekannten Schwester. Warum das so ist, ist leicht zu erklären. Erstens: Die Kanzlerkandidatin hat den Namen Kasner bei ihrer ersten Ehe abgelegt und nach Scheidung und erneuter Heirat nicht wieder angenommen. Zweitens: Angela Merkel ist nicht Gerhard Schröder, der mit seiner Verwandtschaft öffentlich Kaffee trinkt. Drittens: Marcus Kasner ist kein Lothar Vosseler, der Halbbruder des Kanzlers, der sich bei seiner Arbeitssuche so oft von der Boulevardpresse begleiten ließ, bis er der Arbeitsagentur seine Medieneinkünfte offenbaren musste.
Marcus Kasner macht es sich in der beige gestreiften Sitzecke in seiner Zweizimmerwohnung in Darmstadt bequem. Von dort aus hat er alles im Blick: den Arbeitsplatz mit Computer, auf dem das Buch „Sämtliche unfrisierte Gedanken“ des Meisters der Aphorismen, Stanislaw Jerzy, liegt, den Esstisch, das Klavier mit dem aufgeschlagenen „Geistlichen Liederbuch“, die gelben Plastikkisten in Reih und Glied unter dem Fenster, in dem er sein Leben unter Stichpunkten sortiert hat. „Reifezeugnis“, „Promotionsurkunde“, „Spinsysteme“. Langsam verschränkt der 48-Jährige die Arme hinter dem Kopf. Das gibt ihm Zeit. Bevor er spricht, wägt er seine Worte ab. „Ich habe es nie forciert, erkannt zu werden.“ Auch wenn das Interesse an seiner Person proportional zur Prominenz seiner Schwester steigt. Er schweigt, wenn er Kommentare über das Aussehen seiner Schwester hört. „Das ist uninteressant und flach.“ Für Marcus Kasner, Jeans, blau-weiß kariertes Hemd, dunkelblauer Pullover und kahle Stirn, geht es um Inhalte, nicht um die Verpackung. Werden Sprüche geklopft so wie neulich, als sie Brutto und Netto verwechselt hat, dann regt ihn das schon auf. Aber er verspürt kein Bedürfnis herauszuposaunen, dass seine Schwester den Unterschied kennt. Es reicht, wenn er es weiß.
Wünscht er ihr den Sieg?
Es klingt distanziert, wenn Marcus Kasner über Angela Merkel spricht. Er sagt „sie“, „meine Schwester“, „meine ältere Schwester“, nie Angela. Er hütet sich, ihre Politik oder die ihrer Partei zu kritisieren. Er agiert vorsichtig, deutet an. „Ein bisschen unterscheide ich mich schon und habe zum Teil meine Meinung, die nicht mit meiner Schwester oder der CDU übereinstimmt.“ Wünscht er ihr, Kanzlerin zu werden? Ja, sagt er zögerlich, aber das sei letztlich ihre Entscheidung. Er nennt es „eine nicht gerade beneidenswerte Aufgabe, die Bundesrepublik aus ihrer in Hinblick auf die relative Entwicklung nicht gerade ermutigenden Lage herauszuführen“.
So redet ein Wissenschaftler. Marcus Kasner hat wie seine ältere Schwester in Leipzig Physik studiert, ebenfalls theoretische Physik. Diese Wissenschaft entspricht seinem Charakter. Weil sie eine Vielzahl von Erscheinungen auf einige wenige Dinge reduziert. „Ich bin vielleicht begeisterter für die Physik. Ich hab weitergemacht, sie ist ausgestiegen.“ „Etwas komisch“ findet es Kasner im Rückblick, dass er nie mit seiner Schwester über Physik gesprochen hat. „Aber wenn man sich selten sieht …“ Er beendet den Satz nicht, der ein Verhältnis zwischen Geschwistern beschreibt, wie es Millionen Geschwister haben. Man hat nicht besonders viel miteinander zu tun, ist aber nicht aus der Welt. Mit dem Unterschied, dass andere keine Schwester haben, die Kanzlerin werden will.
Trifft Angela Merkel ihre Geschwister, will sie nicht mit ihnen über Politik reden. Kasner muss mit Zeitungsartikeln vorlieb nehmen, mit ihrer Stimme im Radio, seit er sich vor drei Jahren einen Fernseher zugelegt hat, kann er sie live sehen. Er nennt es eine künstliche Welt, in der sie sich bewegt. Einmal hat er sich in diese fremde Welt begeben. An ihrem 50. Geburtstag vor einem Jahr hat Angela Merkel mehr als einhundert Parteifreunde und auch ihre Geschwister eingeladen. Für Marcus Kasner neben Weihnachten eine der seltenen Gelegenheiten, sie zu sehen. Wirklich wohl gefühlt hat er sich dort nicht. „Ich will die politischen Kreise nicht stören“, sagt er. Ergibt sich ein zufälliges Treffen, setzt er sich ins Publikum. So wie im März dieses Jahres, als Angela Merkel kurz vor der Oberbürgermeisterwahl in Darmstadt auftrat, um dem CDU-Kandidaten den Rücken zu stärken. Marcus Kasner hat ein Plakat von dort mit nach Hause genommen, auf dem der Auftritt seiner Schwester angekündigt ist. Aufgehängt hat er es nicht. Es ist im Keller. „Wo denn sonst?“, fragt er erstaunt.
Marcus Kasner ist ein stiller Beobachter. Den Werdegang seiner Schwester beschreibt er mit einem einzigen Wort: „Erstaunlich“. Er hat ihren Einstieg in die Politik auch nur aus der Ferne erlebt.
Wenige Monate bevor die Mauer fällt, weilt er mit einem Stipendium am Kernforschungsinstitut Dubna in der Nähe von Moskau. Bevor er ins Flugzeug steigt, sitzt er mit ihr vor dem Fernseher. „Ich sagte zu meiner älteren Schwester: Jetzt beginnen die wichtigsten drei Monate der DDR und ich werde nicht da sein.“ Das Berufliche hat für ihn Priorität. Sein Freund Günter Nooke, ebenfalls Physiker und Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs DA, versorgt ihn mit Informationen. Ende 1989, da ist Angela Merkel schon beim DA, kehrt Kasner nach Leipzig zurück und ist „elektrisiert von der Aufbruchstimmung“.
Er schaut beim DA rein, der kurz darauf mit der CDU fusioniert. „Die CDU war nicht interessant“, sagt Marcus Kasner knapp. Er schaut bei der Ost-SPD rein. Dort wird die Mutter Mitglied, eine gebürtige Hamburgerin, die ihrem Mann, einem evangelischen Pfarrer, 1954 in die DDR gefolgt war. Er schaut beim Neuen Forum rein, wo der Vater eine politische Heimat findet.
Schließlich landet er beim Bündnis 90 in Brandenburg. „Aus einer Laune heraus“ an einem Wochenende, an dem er mit Günter Nooke unterwegs ist, damals Vorsitzender der Fraktion im Brandenburger Landtag. Kasner lebt zu dieser Zeit schon im Westen. Ein Braunschweiger Professor, den er als Gutachter für seine Promotion in der DDR angegeben hatte – auch so etwas gab es – hatte ihm einen Job an der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt besorgt. Kasner wollte weg von der Universität Leipzig, wo ehemalige Genossen plötzlich „wie im Film“ für die deutsche Einheit waren.
Der Ausflug in die Politik ist nach kurzer Zeit zu Ende. Als sich Bündnis 90 und die Grünen aus dem Westen zusammenschließen, tritt Kasner aus, der sich als Karteileiche bezeichnet und nicht wie Nooke „wie in Trance ständig unterwegs ist“. Die Forderung der Grünen, dass die Bundesrepublik aus der Nato austreten soll, erscheint ihm „suspekt und unrealistisch“. Bis heute steht in Angela Merkels Biografie im Munzinger Archiv, dass er Mitglied bei Bündnis 90/Grüne gewesen sei. Marcus Kasner amüsiert das. „Das ist eine hübsche Facette, die meine Schwester nie geändert hat. Vielleicht gefällt sie ihr.“ Seitdem parteilos, beobachtet er, was um ihn herum geschieht.
Nur lässt er sich kaum in die Karten gucken, wo er politisch steht. „Einen gewissen konservativen Zug gibt es schon bei mir.“ Er verschränkt die Arme vor der Brust und wirft das Wort Sekundärtugenden in den Raum, gefolgt von Achtung und Respekt, vom Singen in der Kirche. Als er von Volksliedern und Lagerfeuerromantik spricht, klingt er für einen Moment wie Angela Merkel. Aber nicht lange. Denn bei den Grünen findet er noch immer „interessante Elemente“ wie Energiepolitik und Nachhaltigkeit. Aber man dürfe es nicht übertreiben. Festlegen will er sich nicht. „Ich habe keine eindeutige Meinung.“
Marcus Kasner ist zurückhaltend mit Äußerungen über seine Schwester. Mit sich selbst geht er härter ins Gericht. „Ich müsste bei manchen Dingen entschlossener sein“, sagt er. „Die Sachen einfach in die Hand nehmen.“ Rückblickend überlegt er, ob er 1984 nicht in Hamburg hätte bleiben sollen, wohin er zum Geburtstag einer Tante reisen konnte. „Ich bin ein bisschen heimattreu“, sagt er, und es klingt wie eine Entschuldigung. „Rein beruflich war das vielleicht ein Fehler gewesen.“
Eine Hand voll Studenten
Während seine Schwester in der Politik Karriere gemacht hat, lief es bei ihm mit der Physik nicht ganz so gut. Nach einigen Jahren in Braunschweig bekam er ein Stipendium in den USA. Nach seiner Habilitation bemühte er sich um eine Professorenstelle in Deutschland. In Saarbrücken, in Regensburg, in Stuttgart. Vergeblich. Deshalb suchte er danach einen sicheren Job. Den fand er vor acht Jahren in Darmstadt bei einem Unternehmen im Telekommunikationsbereich als Software-Ingenieur. Nur ein-, maximal zweimal im Monat hat er mit der Physik zu tun. Wenn er als Privatdozent an der Universität Magdeburg Physik im Wahlfach unterrichtet, manchmal nur vor einer Hand voll Studenten.
Kasner weiß noch nicht, wem er bei der von seiner Schwester „Schicksalswahl“ genannten Wahl seine Stimme geben wird. Er bezeichnet sich als klassischen Wechselwähler. Die jetzige Stimmung erinnert ihn an 1989. „Vielleicht wählt man nicht etwas, sondern gegen etwas, ohne genau zu wissen, was.“ Die Kandidatur seiner Schwester spiele dabei „keine sonderlich große Rolle“.
Wieder legt er die Arme hinter den Kopf und überlegt. Was er zum Schluss sagt, klingt nach einem Anflug von Enttäuschung. „Sie könnte ja auch fragen, wie manches ankommt.“ Marcus Kasner wird weiter stiller Beobachter sein.