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Archiv-Artikel

Der Muskel im Lid

DOKUMENTARFILM 1 Als der Papst Erfurt besuchte, drehte Thomas Heise „Die Lage“, einen Film, der vom Ausnahmezustand handelt

Wenn der Papst nach Deutschland kommt, wird ein Stück Mittelalter sichtbar

VON BERT REBHANDL

Ein Mann mit einem seltsamen Hut sitzt auf einem Thron und vernimmt eine Botschaft. Der Hut heißt Mitra, der Mann heißt Papst, einer (irrigen) Schlagzeile zufolge ist er mit Deutschland identisch. Die Botschaft, die er vernimmt, stammt von dem Apostel Paulus und erging an die Korinther. Genauer gesagt an eine Gruppe im antiken Korinth, deren Mitglieder daran glaubten, dass der jüdische Prophet Jesus nach seinem Tod am Kreuz auferstand und später zu seinem Vater im Himmel zurückkehrte. Der Papst, der mit bürgerlichem Namen Joseph Ratzinger und mit päpstlichem Benedikt XVI. heißt, sieht ein wenig müde aus, während ein Mann mit sich leicht überschlagender Stimme den Brief an die Korinther vorliest.

Aber der Eindruck kann täuschen, denn so richtig nahe ist Thomas Heise für seinen Dokumentarfilm „Die Lage“ dem Oberhaupt der katholischen Kirchen nicht gekommen. Wir sehen Bilder mit langer Brennweite, und es sind erst diese Bilder, die erkennbar machen, was für ein seltsames Geschehen da eigentlich abläuft, wenn ein Papst zu Besuch kommt. Zwar müssen sich auch Politiker gelegentlich in eine schräge Joppe werfen, wenn sie einen Kollegen aus einem fernen Land begrüßen, aber die Kirche, ursprünglich eine Gruppe mit geringen Ansprüchen an weltliche Güter, setzt da ganz andere Maßstäbe.

Man könnte es auch so sagen: Wenn der Papst nach Erfurt kommt, in die einstige Frontstadt der Christenheit (dahinter begann der tiefe Wald), dann wird wieder ein gutes Stück von dem Mittelalter sichtbar, dem sich die Äußerlichkeiten der katholischen Kirche immer noch wesentlich verdanken. Dass Thomas Heise sich dieses Themas annimmt, scheint zuerst einmal überraschend. Doch dann wird bald deutlich, was er hier eigentlich gesehen hat: einen in höchstem Maße geordneten Ausnahmezustand, in dem der Souverän derjenige ist, der über das Protokoll verfügt. Die leeren Autobahnen, auf denen Heises Blick verweilt, zeugen von dem Ausnahmezustand. Der ausgerollte Teppich auf dem Provinzflughafen ebenso. Wo die Blumenkinder zu stehen haben und wo die Ministerpräsidentin, alle „in gebührendem Abstand“ zum Papst, das ist alles fein säuberlich in eine Skizze eingezeichnet, die Heise mit der Kamera minutiös vermisst und deren Inhalt er mit leicht staunender Stimme verliest.

Wenn man den Hinweisen auf Thomas Heises Webseite folgt, dann wurde „Die Lage“ in Manier eines Guerillafilms gedreht, also informell zwischen den offiziellen Kamerateams, die ein „Weltbild“ lieferten, das alle anderen Medien „abgriffen“. Damit wird die eigentliche Richtung dieses Films deutlicher: Er ist nicht so sehr religionskritisch (das ist er auch) als vielmehr medienkritisch. Und in der Idolatrie der Medien, die erst das andächtige Bild päpstlicher Macht schaffen, steckt ein beträchtlicher Rest von den autoritären Verhältnissen, die die Kirche den modernen Gesellschaften hinterlassen hat. Papstbesuche sind Ausnahmezustände auch der Heuchelei, ganze Länder werden dann plötzlich für ein paar Tage fromm, ein Affront eigentlich gerade den Gläubigen gegenüber, die sich während des Jahres bemühen und sich authentisch auf den Papst freuen.

„Die Lage“ ist letztlich ein bescheidenes Projekt: einen persönlichen Blick auf ein Phänomen zu riskieren, das in hohem Maße formatiert ist. Und gerade in dieser Bescheidung liegt die große Qualität dieses nicht zuletzt visuell überzeugenden Films (Kamera: Peter Badel, Robert Nickolaus, Maxim Wolfram), der mit einem Gedicht des erbaulichen christlichen Aufklärers Barthold Heinrich Brockes beginnt. Darin ist von den Muskeln die Rede, die unsere Augenlider heben. Thomas Heise ist einer dieser Muskeln.

■ „Die Lage“. Regie: Thomas Heise. Dokumentarfilm. Deutschland 2012, 74 Min.