: „Bis heute bekomme ich Panik“
Stefan Lauter
Stefan Lauter war in der DDR unerwünscht. Der aufmüpfige Berliner wurde von einer Jugendhilfe-Einrichtung in die nächste gesteckt. Endstation war 1985 der berüchtigte Geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Der damals 17-Jährige erlebte zwischen den Gefängnismauern die schlimmsten Monate seines Lebens: Einzelarrest, Schläge, ein Leben im Laufschritt. Lange versuchte er, seine Zeit als Häftling ohne Gerichtsurteil zu verdrängen – bis er zusammenbrach. Heute ist der 38-Jährige als politisch Verfolgter anerkannt. Im Berliner Stasi-Museum arbeitet Lauter gegen das Vergessen. Menschen mit ähnlichem Schicksal sagt er: Schämt euch nicht.
INTERVIEW MATTHIAS LOHRE
taz: Herr Lauter, schlafen Sie gut?
Stefan Lauter: Nein. In manchen Phasen bin ich körperlich vollkommen erschöpft. Dann nimmt sich der Körper die Ruhe, die er braucht. Zu anderen Zeiten geht es mir gut. Meine Freundin ist gerade für einige Wochen zu Besuch. Aber fast immer habe ich Probleme, ein- und durchzuschlafen. Erst nach vielen Jahren begann ich zu begreifen: Die Schweißausbrüche, die Panik, die Belastungsstörungen – all das hat seine Wurzeln in meinem halben Jahr als Werkhof-Insasse.
Dabei liegt Ihre Zeit im festungsartigen Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau 20 Jahre zurück. Wann haben Sie gemerkt, dass diese Monate „Haft“ Sie nicht mehr verlassen werden?
Manches stellte sich ziemlich bald heraus: Meine Freundin fragt mich beispielsweise: Warum isst du so schnell? Das ist typisch für einen ehemals Inhaftierten, der während seiner Haftzeit beschränkte Essenszeiten hatte. In kurzer Zeit musste ich damals enorm viele Kalorien aufnehmen, um den Alltag zu verkraften. Bis heute habe ich Angst vor Menschenansammlungen. Wenn viele fremde Menschen auf mich zukommen, etwa im Kaufhaus, bekomme ich Panik. Die Schlafstörungen und die anderen Erkrankungen kamen erst im Laufe der Jahre hinzu. Erst als ich eine Psychotherapie machte, wurde mir langsam klar, was hinter den Ängsten steckte.
Ihre Odyssee durch die Jugendhilfe-Einrichtungen der DDR begann erst mit 16 Jahren. Sie waren also kein klassisches Heimkind. Was war passiert?
Anfang der 80er-Jahre schnitt ich mir einen Punk-Haarschnitt, färbte mir die Haare grün, rot oder schwarz und trank mit anderen Jugendlichen Bier auf dem Alexanderplatz. Zur selben Zeit trat ich aus der FDJ aus. Und ich bekam Kontakt zu einer evangelischen Jungen Gemeinde in Friedrichshain.
War das eine bewusste Rebellion?
Am Anfang war da vor allem das Gefühl des ganz Anderen: In der Kirchengemeinde konnte ich offen über die DDR-Verhältnisse reden und Neues erfahren. Da wurde ich nicht so belogen wie beim Staatsbürgerkunde-Unterricht an der Einheitsschule. Mir wurden die Widersprüche in der DDR klar. Etwa, dass die Mieten zwar niedrig waren, ich aber meine Meinung nicht offen sagen durfte. Schließlich glaubte meine Mutter, nicht mehr mit mir fertig zu werden: Sie beantragte meine Aufnahme in eine Art Jugendwohnheim.
Der nächste Schritt Richtung Jugendwerkhof.
Das ahnte ich damals noch nicht. Als sich ein anderer Jugendlicher im Wohnheim geprügelt hatte, kam er in Untersuchungshaft. Ein Leutnant der Kriminalpolizei und die Heimleitung gossen daraufhin den altbekannten politischen Einheitsbrei über uns aus: „Asoziale Elemente“ hätten in „unserer sozialistischen Gesellschaft“ nichts zu suchen. Da platzte mir der Kragen. Ich sagte: „Wer hier offen seine Meinung sagt, ist selbst bald inhaftiert.“ Und: „Im Osten das Brot, im Westen die Freiheit.“ Diesen Satz fand ich mehr als zehn Jahre später wieder, als ich meine Führungsakte las.
War Ihnen klar, wie kurz Sie vor der Einweisung in einen der rund 50 Jugendwerkhöfe standen?
Überhaupt nicht. Wie fast alle in der DDR dachte ich: Jugendwerkhöfe sind für kriminell gefährdete Jugendliche. Das Konzept der DDR-Volksbildungsministerin Margot Honecker sah vor, dass die Jugendlichen dort zu einer vollwertigen sozialistischen Persönlichkeit erzogen wurden. Zwar hatte ich viel Mist gebaut und provoziert. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich bald selbst in einem Werkhof landen könnte.
Ihre Worte brachten Sie zunächst in den Offenen Jugendwerkhof Freital in Sachsen. Der Name klingt nicht sehr dramatisch.
Also bitte! Die Offenen Jugendwerkhöfe dürfen Sie sich nicht vorstellen als Begegnungsstätte für Kinder und Jugendliche. Bei der Einlieferung wurden den Insassen alle Habseligkeiten abgenommen, auch Personal- und Sozialversicherungsausweis. Wer Glück hatte, trug noch seine eigenen Sachen am Leib. Das war’s. Es gab Arrestzellen, die oft nicht einmal ein Fenster hatten. Sie waren gesichert wie eine richtige Gefängniszelle. Heutzutage entspricht all das internationalen Kriterien einer Haft. Und das für 14- bis 18-Jährige, die von keinem Gericht verurteilt worden waren. Von dort wollte ich einfach nur weg – wenn es sein musste, auch in eine Psychiatrie.
Wie haben Sie das versucht?
Ich spielte den Verrückten: Als unsere Gruppe durch Freital marschierte, zog ich meine Zahnbürste an einer Leine hinter mir her. Verdutzten Passanten sagte ich: „Das ist mein Hund Waldi.“ Ein andermal ging unsere gesamte Gruppe unerlaubt ins Kino. Außerdem weigerte ich mich, wieder in die FDJ einzutreten. All das merkte sich die Heimleitung. Schließlich wurde ich um 3 Uhr nachts geweckt und in die Arrestzelle geprügelt. Nach wenigen Wochen in Freital wurde ich in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau eingewiesen.
Die Endstation. Ein altes Gefängnisgebäude in Sachsen, umgeben von meterhohen Mauern, auf denen Glassplitter steckten. Von den Wachtürmen übersah man das Gelände. Was wussten Sie damals von diesem Ort?
Nichts. Erst, als sich die Gefängnisschleuse hinter mir schloss, ahnte ich, dass es noch schlimmer werden würde. Bei der Ankunft im Jugendwerkhof erlebte jeder Jugendliche dasselbe Ritual wie ich: Stundenlang stand ich vollkommen ahnungslos auf einem schmalen Flur. Niemand sprach mit mir. Als ich schließlich fragte, wo ich hier sei, schlug mir ein Wärter seinen Schlüsselbund ins Gesicht. Danach wurde ich für drei Tage in die mit Sichtblenden verdunkelte Arrestzelle gesteckt. Solch ein Schock weckt bei jedem die Bereitschaft zur „Umerziehung“. Ein Jugendlicher rollte in der Zelle seinen Pullover zu einem Strick zusammen und erhängte sich. Tage später erst kamen seine Einweisungsunterlagen, in denen sein behandelnder Arzt attestiert hatte: Der Junge hat Platzangst.
Wie sah Ihr „Alltag“ in Torgau aus?
Auf drei Etagen lebten drei Jugendlichen-Gruppen, zwei mal 20 Jungen und 20 Mädchen. Alle schliefen in einem zugigen Schlafsaal. Dort gab es keine Toiletten, nur einen Eimer, der morgens geleert werden musste. Die Fenster waren vergittert. Jeden Morgen gab es Strafsport, den berüchtigten „Torgauer Dreier“: 100 Kniebeugen, Liegestütze, mehr als 2.000 Meter Ausdauerlauf. Danach hatten wir eine Viertelstunde Zeit zu frühstücken, alles unter Aufsicht. An vier Wochentagen arbeiteten wir im Akkord an völlig veralteten Maschinen und fertigten Lampen für die Volksmarine. Als ich mit einem gequetschten Finger ins nahe gelegene Krankenhaus eingeliefert wurde, verweigerte der stellvertretende Anstaltsleiter mir eine Betäubungsspritze. Dem Arzt sagte er: „Der kommt aus dem Jugendwerkhof. Der hält Schmerzen aus wie ein Indianer.“
Versuchten Sie wieder zu fliehen?
Anfangs wollte ich mich mit der Lage arrangieren. Ich dachte: Bald werde ich 18 – und endlich entlassen. Aber eines Tages, als wir zu Mittag aßen, kam ein „Erzieher“ herein, packte sich einen der Jugendlichen und schleppte ihn wortlos aus dem Saal. Von draußen drangen die Schreie des Jungen zu uns herüber. Für drei Wochen landete er im Einzelarrest. Vermutlich auch, um die Verletzungen zu kaschieren. Ich verbrachte die Hälfte meiner Zeit im Werkhof in Einzelarrest.
Wie muss man sich das vorstellen?
Sie hocken allein in einem etwa acht Quadratmeter kleinen Raum ohne richtiges Fenster. Nachts schlafen Sie auf einer Holzpritsche. Die restliche Zeit sitzen Sie untätig auf dem Boden, denn die Pritsche muss tagsüber hochgeklappt sein. Sie haben nur einen Eimer statt einer Toilette, und nach Belieben verweigert Ihnen das Personal Ihr Essen.
Bis heute hält sich unter vielen Ex-DDR-BürgerInnen das Vorurteil: Ihre Strafe werden die jungen Leute schon verdient haben, und viele von ihnen waren ja auch Neonazis.
In meinen viereinhalb Monaten in Torgau im Jahr 1985 habe ich niemanden gesehen, der erkennbar Neonazi war. Nach der Schließung des Jugendwerkhofs im November 1989 fanden sich jedoch auf den Pritschen Nazi-Schmierereien. Ob die Hakenkreuze und SS-Runen vor oder nach der Anstaltsauflösung dort hingekommen sind, kann heute niemand mehr mit Sicherheit sagen. Fest steht aber: Die meisten Kinder und Jugendlichen kamen nach Torgau, weil sie aus einem anderen Jugendwerkhof geflüchtet waren. So wie ich.
Wie reagierte Ihre Mutter nach Ihrer Entlassung?
Wie eine Mutter reagieren muss, die nicht wahrhaben will und kann, dass ihrem Kind durch Eigenverschulden massives Unrecht geschehen ist. An meinem 18. Geburtstag ging ich schnurstracks zu meiner Mutter. Sie stellte eine Flasche Rotkäppchen-Sekt auf den Tisch und wollte mit mir auf meinen Geburtstag anstoßen. Als ich ihr von meiner Zeit im Werkhof erzählte, sagte sie: „Du hattest schon als Kind eine blühende Fantasie. Hör bitte auf zu lügen.“ Erst als wir acht Jahre später gemeinsam den ehemaligen Jugendwerkhof besuchten, erahnte sie, was mit mir dort geschehen war.
Wann haben Sie begonnen, anderen von Ihren Erfahrungen zu erzählen?
Als ich Jahre später meine Halbschwester kennen lernte. Wir verstanden uns von Anfang an blind. Sie riet mir: Bemüh dich doch um eine Rehabilitierung. Fahr nach Torgau und schau, was noch vom Lager übrig ist. Heute gehöre ich zu den fünf Ehemaligen, die als politisch Verfolgte des DDR-Regimes gerichtlich rehabilitiert sind. Fünf von mehr als 4.000 Ex-Torgauern. Ich hatte nachweisen können, dass mein Austritt aus der FDJ für meinen Weg nach Torgau mitverantwortlich gewesen war.
Erst vor gut einem Dreivierteljahr hat das Berliner Kammergericht entschieden: Die Einweisung nach Torgau war generell rechtsstaatswidrig. Politische Gründe muss niemand mehr vorbringen, um rehabilitiert zu werden. Dennoch melden sich nur wenige Ex-Insassen. Warum?
Viele schämen sich bis heute. Der Ruf der Werkhöfler ist noch immer schlecht. Auch, weil es über ihre Geschichte nur wenige Medienberichte gibt. Selbst die kleine Erinnerungsstätte auf dem ehemaligen Anstaltsgelände in Torgau ist von Schließung bedroht. Meinen Lebenslauf können Interessierte dort einsehen, als Beispiel. Ehemaligen Häftlingen sage ich immer wieder: Schämt euch nicht! Ihr könnt nichts dafür, dass ihr dorthin verfrachtet wurdet!
Können Sie sich vorstellen, einmal richtig glücklich zu sein?
Ich versuche mir immer wieder zu vergegenwärtigen, dass ich nicht nur Müll geschafft habe. Ich habe einiges erreicht: Ich war Marktleiter im Einzelhandel, ich habe studiert – auch wenn ich das Studium wegen psychischer und finanzieller Probleme nicht zu Ende führen konnte. Als Referent im Stasi-Museum in der Normannenstraße trage ich dazu bei, dass die DDR-Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Und ich habe zwei wundervolle Kinder. Darauf kann ich stolz sein.