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Archiv-Artikel

Alles Erzählte liegt in der Vergangenheit

NAHAUFNAHME „Al-Khorough Lel-Nahar“, der tolle Debütfilm der Ägypterin Hala Lotfy, zeigt Alltagserfahrung wie einen Reigen an einem einzigen Tag (Forum)

Hala Loftys Film blickt selten nach draußen. Er fängt ein Leben ein, das sich in Innenräumen entfaltet. Außenwelt dringt nur als fahles Schimmern durch die Vorhänge

„Er macht das immer so“, meint Soad entnervt, als der bettlägerige alte Mann, ihr Vater, die Nahrungsaufnahme verweigert, die flüssige Nahrung einfach wieder aus dem Mund herauslaufen lässt. Jede Handlung, jede Bewegung ist immer schon Wiederholung, Teil eines gleichförmigen, undifferenzierten Zeitflusses.

Klug ausgewählte Bilder

„Al-Khorough Lel-Nahar“ („Coming Forth by Day“), der tolle Debütfilm der ägyptischen Regisseurin Hala Lotfy, spielt zwar an einem einzigen Tag, seine ruhigen, langen, klug ausgewählten Bilder aber fangen Routine ein, die auf jahrelang akkumulierte Alltagserfahrung verweisen.

Ein kleiner Haushalt, drei Menschen, die sich mit Mühe über Wasser halten: Die Mutter arbeitet nachts in einem Krankenhaus, tagsüber schläft sie oder geistert halblebendig durch die gleichzeitig enge und weite, weil karg eingerichtete Wohnung. Die erwachsene Tochter, Soad, pflegt den invaliden Vater (meist) geduldig, mit ökonomischen Handgriffen.

Tatsächlich fokussiert die Kamera, wenn sie ihr denn überhaupt einmal nahe kommt, eher ihre Finger als ihr Gesicht. Soad steht oft am Fenster, eher selbstvergessen als neugierig. Der Film blickt selten nach draußen, die Außenwelt dringt lediglich als fahles Schimmern durch die Vorhänge, als gedämpfter Straßenlärm, fängt ein Leben ein, das sich in Innenräumen entfaltet, eigentlich: in sich selbst faltet. „Coming Forth by Day“, so lautet auch die wörtliche Übersetzung des Originaltitels des ägyptischen Totenbuchs.

Allerdings beschreibt der Titel, in all seinen Schattierungen, nur die erste Filmhälfte. Denn schließlich, gegen Abend, verlässt Soad doch noch das Haus. Mehrmals hat sie das vorher angekündigt, so, als ob sie sich erst selbst überreden muss. Auch die Mutter leistet ein wenig – eher passiven – Widerstand. Ohne rechtes Ziel verlässt Soad die Wohnung, zuerst geht es zum Friseur, dann steigt sie in ein Sammeltaxi. Ihre leicht verwirrt wirkende Nebensitzerin verwickelt sie in ein Gespräch, meint, sie sei verhext, weil sie keinen Mann finde. In diesen wenigen Minuten fallen mehr Worte als im gesamten vorherigen Film, und man wird sich noch einmal bewusst, wie wenig man eigentlich weiß über Soad, die Frau, der man eine Weile lang beim Vor-sich-hin-Leben zugeschaut hat.

Der Ausflug in die Stadt ist noch nicht zu Ende, im Gegenteil, er transformiert „Coming Forth by Day“ so sehr, dass man am Ende nicht so recht sagen kann, ob sich die Routine wiederherstellen wird nach dem Abspann. Nicht weil viel passieren würde, Hala Lotfy bleibt ihrem antidramatischen Stil treu, nicht aus Sturheit, sondern aus psychologischer Konsequenz: Wenn es je etwas im starken Sinne zu erzählen gab im Leben Soads, dann liegt das bereits in der Vergangenheit. Doch möglicherweise zählen all die Kleinigkeiten, die man während eines Abends in der Stadt aufsammelt – neue Gesichter, neue Sinneseindrücke, neue Gerüche, zufällig aufgeschnappte Gesprächsfetzen –, ohnehin mehr als die eine große Erzählung. Einmal die Tür geöffnet, steht man in der chaotischen Welt, ob man nun will oder nicht.

LUKAS FOERSTER

■ Heute, Colosseum 1, 20.00 Uhr; 16. 2., CineStar 8, 22.00 Uhr