: „Ich bin für Nerds!“
FESSEL Eva Illouz ist Soziologin an der Hebräischen Universität in Jerusalem und erforscht den Einfluss der Konsumgesellschaft auf die Liebe. In ihrem neuesten Essay geht es um den Erfolg des Erotikromans „Shades of Grey“. Ein Gespräch über Unsicherheit, das Leiden in modernen Liebesbeziehungen und die Illusion, Sex sei Privatsache
■ Das Leben: Die israelische Soziologin wurde 1961 in Marokko geboren. Sie zog mit zehn Jahren nach Frankreich. Sie studierte in Paris und Pennsylvania. Seit 2006 ist Illouz Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Die Zeit wählte sie 2009 zu einer von zwölf zukunftsweisenden Intellektuellen.
■ Die Arbeit: Illouz erforscht, wie der Kapitalismus und die Medienkultur unsere Emotionen und romantischen Beziehungen beeinflussen, zuletzt in ihrer Studie Warum Liebe weh tut (Suhrkamp, 2011) und im Essayband Die neue Liebesordnung (Suhrkamp, 2013) über die Bestsellertrilogie von E.L. James’ Fifty Shades of Grey.
GESPRÄCH ANNE-SOPHIE BALZER UND MARTIN REICHERT
sonntaz: Frau Illouz, wir haben uns bei der Lektüre Ihres Suhrkamp-Essaybandes über „Fifty Shades of Grey“ gefragt, ob Sie sich nicht geärgert haben, das Machwerk nicht selbst verfasst zu haben.
Eva Illouz: Um Gottes Willen, warum?
Nun, Sie wissen offensichtlich genau, wie sowas funktioniert – und wären jetzt eine reiche Frau. Von diesem Buch wurden 70 Millionen Exemplare verkauft!
Ach so… Aber nein. Da geht es um Unterhaltung, als Soziologin bin ich eher für den langweiligen Kram zuständig…
Also im Ernst: Was hat Sie an dieser Trilogie interessiert? Frau trifft Mann, beide haben SM-Sex und am Ende gründen sie eine Familie…
Nun, ich wollte herausfinden, was Frauen an diesem Roman, der ja wirklich nicht besonders gut geschrieben ist, begeistert. Sie waren ja die größte Zielgruppe.
Und?
Ich habe unter anderem herausgefunden, dass „Shades of Grey“ vieles davon spiegelt, was in modernen Beziehungen Realität ist: Dass diese nämlich erfüllt sind von Unsicherheiten. Und für diese Unsicherheiten hält das Buch eine gewisse Formel bereit.
Sie meinen: eine Bedienungsanleitung?
Sehen Sie, Kultur ist voll von Mythen und Erzählungen, die einem dabei helfen sollen, mit den Herausforderungen des eigenen Lebens und der Gesellschaft zurecht zu kommen. Ich denke, Geschichten helfen uns dabei, Probleme zu lösen, wir sprechen aber eher von einer symbolischen Problemlösung. Als Soziologin sage ich ganz einfach, dass SM als Formel ein Weg ist, von Unsicherheit geprägte Geschlechtsidentitäten zu restabilisieren – in einer Zeit, in der die Unsicherheit stärker geworden ist, in der viel weniger klar ist, wer was zu tun hat, was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein. Mit SM können Sie diese Rollen so stabilisieren, dass Sie mit der sexuellen Freiheit kompatibel bleiben.
Man muss sich also vorstellen, dass in Mittelschichts-Reihenhäusern viel gepeitscht und angekettet wird?
Natürlich muss die SM-Formel nicht viel mit dem Alltag vieler Menschen zu tun haben. Manche Menschen dachten fälschlicherweise, ich würde die Sadomasopraktiken im Buch empfehlen.
Es geht also eher um die Analyse von Literatur?
Die feministische Literaturkritik betont bezüglich der romantischen Schauerromane – etwa bei Jane Eyre –, dass einer der Gründe, warum Männer dort grausam erscheinen, darin besteht, dass sie zwar als grausam dargestellt werden, sich aber am Ende herausstellt, dass sie ernsthaft in die Frauen verliebt sind. Diese Figuren ringen mit sich, sind ambivalent. Und so sagt der romantische Schauerroman der Frau auf einer symbolischen Ebene: Männer sind grausam zu dir, aber das liegt nicht am Patriarchat oder daran, dass sie euch dominieren. Es liegt nur daran, dass sie euch – ganz tief drinnen – lieben, aber das zeigen sie euch erst später. Ich will damit sagen: Das Kerninteresse hinter vielen kulturwissenschaftlichen Studien ist die Frage, warum Menschen die Lektüre populärwissenschaftlicher Werke genießen. Und bei „Shades of Grey“ finden wir die gleiche Narration von einem zunächst kalten und dann sehr liebevollen Mann.
Was sagt es denn aber über unsere Liebesbeziehungen aus, wenn wir Handschellen und allerlei ziemlich gewalttätige Praktiken benötigen, um unsere Beziehungsprobleme einigermaßen in den Griff zu bekommen?
Es geht in diesem Buch um viel mehr als nur um Handschellen. Ich würde das nicht so ernst sehen. Der Kontext der Handschellen ist der eines sexuellen Spieles, bei dem die Regeln klar festgelegt wurden und beide Parteien diesen Regeln zugestimmt haben. Das Thema von „Shades of Grey“ ist, mehr noch als gewalttätige Sexpraktiken, das Wesen einer Vertragshaftigkeit innerhalb einer Beziehung. Was bedeutet es, in einer Beziehung einen Vertrag abzuschließen? Wie frei sind Menschen in Beziehungen? Ich bin überzeugt davon, dass in populärkulturellen Werken wie „Shades of Grey“ philosophische Fragen gestellt werden. Ich sage bewusst gestellt – nicht zwangsläufig beantwortet.
Und was wäre dann die philosophische Frage, die in „Shades of Grey“ gestellt wird?
Die Frage ist, wie weit eine Frau ihren Willen zugunsten des Willens eines Mannes abzuändern bereit ist – weil sie ihn liebt. Diese Frage ist nicht präzise philosophisch, aber stellt sich vielen Frauen heute sehr konkret.
Wir dachten, Frauen seien heute längst emanzipierter; auch in sexuellen Fragen.
Nein, im Gegenteil. Wir leben noch immer in einer Welt tiefgreifenden Patriarchats, insbesondere auf dem Feld von Liebesbeziehungen. Viele Frauen beschäftigen sich also mit der Frage, wie weit sie gehen sollen, um ihren Partner zu befriedigen, gleichzeitig sich selbst zufrieden zu stellen und das alles, um geliebt zu werden. Und der Charakter von Anastasia Steele – der Protagonistin von „Shades of Grey“ – beschäftigt sich genau mit dieser Frage. Anastasia ist auf der einen Seite total devot, wenn es um ihre Rolle als Sexualpartnerin geht. Auf der anderen Seite ist sie die Dominantere, sagt ihm sehr deutlich, was sie will. Dieser konstante Rollentausch macht den Roman so attraktiv und sorgt dafür, dass sich Frauen mit Anastasia identifizieren können.
Und was trägt der „hypersexuelle, hypermaskuline“ männliche Protagonist zum Lesevergnügen bei?
Auch Christian Grey vereint verschiedene Persönlichkeiten. Einerseits ist er unglaublich traditionell. Er möchte nicht ohne Ehevertrag heiraten und ist sehr besitzergreifend. Auf der anderen Seite ist er auf sexuellem Gebiet sehr abenteuerlustig, kompetent und erfahren – und auf ihr Vergnügen konzentriert. Nicht auf seines. Dann erfahren wir nach und nach auch von seiner traumatischen Kindheit, das typische Bild eines äußerlich unnahbaren, aber innerlich verletzten Mannes. Das macht ihn zu einem Charakter, von dem Frauen träumen.
Ist „Shades of Grey“ ein feministisches Buch?
Nein, das glaube ich nicht.
Wäre das Buch für Schwule und Lesben interessant – oder würden die sich eher langweilen?
Nun, zunächst einmal sehe ich, dass die heterosexuelle Welt sich in ihren Praktiken sehr häufig an der homosexuellen Welt orientiert. Für mich sind homosexuelle Menschen die Avantgarde, deren Praktiken häufig mit einiger Zeitverzögerung auch von heterosexuellen Menschen imitiert werden.
Avantgarde, weil sie es viel früher geschafft haben, Liebe und Sex zu trennen?
Zum Beispiel, ja. Außerdem führen Homosexuelle egalitärere Beziehungen, so zumindest mein Eindruck. Es geht um die generelle Betrachtung der Moderne aus soziologischer Sicht: Es gibt mehr Demokratie, mehr Gleichberechtigung, mehr Freiheit. Das hat natürlich auch seinen Preis, denken Sie an Sicherheit, Gewissheit oder Bedeutung. Ich würde von einer notwendigen Zerstörung sprechen, weil es keinen Weg zurück gibt. Gleichheit und Freiheit gehen notwendigerweise mit Zerstörung einher.
Mehr Unsicherheit in unseren Beziehungen?
Ja, genau. Ich würde sagen, dass beinahe alle Menschen heutzutage in ihren Beziehungen ins Straucheln geraten. Die meisten Menschen haben Sex nicht als Ausdruck inniger emotionaler Verbindung, sondern einfach, weil er ihnen Spaß macht. In einer traditionelleren Ordnung bedeutet Sex, seinen innigsten Gefühlen auf körperlicher Ebene Ausdruck zu verleihen. In dieser Ordnung sind die Emotionen das Signifikat, das Bezeichnete, das durch Sex, als Signifikant, zum Ausdruck gebracht wird.
Was folgt aus diesen frei schwebenden Signifikanten, aus Sexualität ohne korrespondierende Emotion?
Ich behaupte, dass wir die Bedeutung sexueller Freiheit neu überdenken müssen. Sollte Sexualität keinen anderen Zweck haben als Vergnügen zu bereiten? Ich finde, das sollte öffentlich mehr diskutiert werden. Bei „Shades of Grey“ finden wir folgendes Szenario: Zunächst sieht die Beziehung der beiden aus wie eine gewöhnliche Affäre, die auf rein körperlicher Anziehungskraft gründet. Die Geschichte der beiden geht aber weiter und mündet in eine stinknormale, sehr konventionelle Liebesgeschichte. Und natürlich bewerte ich diesen Ausgang nicht als gültige Antwort auf die Probleme moderner Beziehungen, weil ich nicht glaube, dass dieses Modell in unserer Gesellschaft funktionieren kann.
Welches dann?
Ich würde mir wünschen, dass Menschen offener über ihre Bedürfnisse sprechen, auch in der öffentlichen Sphäre. Frauen mit Männern, Männer mit Männern und so weiter. Wenn ich nämlich richtig liege, gibt es sehr viel Leid und Leiden in modernen Liebesbeziehungen. Aber unser Leiden bringt uns auch zu den großen moralischen Fragen, deren Antworten wir einander schulden.
Haben Sie Antworten?
Ich habe überhaupt keine Formel für moderne Beziehungen. Was ich aber sage: Lasst uns scheinbar private Themen öffentlich diskutieren. Der Liberalismus macht uns gerne glauben, Sexualität sei unsere Privatsache. Tatsächlich beeinflusst sie aber in hohem Maße die öffentliche Sphäre. Es wird also Zeit, das Thema auf die öffentliche Agenda zu bringen.
Und was, wenn das Gegenteil der Fall ist? Allerorts wird über Sex geredet, aber im Bett passiert gar nichts. Es wird zu viel Druck aufgebaut: Nur schöne, perfekte, dünne Menschen haben guten Sex. Stattdessen wird also nur noch masturbiert.
Interessant, was Sie da beobachten.
Muss man nur ins Netz gehen, dort gibt es sehr populäre Internetforen, in denen Menschen öffentlich masturbieren – jeder für sich, und die halbe Welt schaut zu.
Nun, das klingt zunächst etwas irritierend für mich. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, in was für einem Jahrhundert ich leben wollte, in einem, in dem Masturbation eine schreckliche Sünde ist oder in einem, in dem solche Seiten existieren, ich würde natürlich letzteres Jahrhundert wählen.
Der Rückzug auf den Vibrator ist also ein Fortschritt?
Es ist ja nicht nur eine Entweder-oder-Frage. Vielmehr geht es darum, dass es nicht die Aufgabe von Staat, Kirche oder irgend eines Organs ist, Sexualität zu regulieren und zu bestimmen, was gut und was schlecht ist. Ich glaube, das sollte mündigen BürgerInnen selbst überlassen werden. Ich glaube sehr an die Kraft fairer Diskussionen, sie können unser Denken und Handeln voranbringen. Deshalb würde ich mir nicht anmaßen, etwas Moralisierendes über diese Internetseite zu sagen. Ich würde sie jedoch in einen historischen Kontext setzen wollen. Ich würde fragen, warum Menschen sich zu Objekten machen, warum andere wiederum nur ZuschauerInnen sind.
Moral ist Ihnen suspekt?
Als Soziologin ist es nicht meine Aufgabe, zu urteilen. Übrigens etwas, das viele Leute in meinem Umfeld frustriert. Sie sagen dann: Warum äußerst du dich nicht wertend zu diesem oder jenem Thema? Ich finde jedoch, dass meine Arbeit als Soziologin da endet, wo die Arbeit der BürgerInnen beginnen sollte.
Wenn wir Masturbationsseiten, BDSM und andere sexuelle Entwicklungen mit einbeziehen, auf welche Weise denken Sie, werden sich unsere Liebesbeziehungen in den nächsten Jahrzehnten verändern?
Ich bin ja keine Hellseherin! Aber man erkennt gewisse Tendenzen. Ein konservativer Backlash auf die aktuellen sexuellen Entwicklungen ist zu bemerken. Viele junge Menschen wollen wieder heiraten und monogame Beziehungen führen. Das Ideal der Jungfräulichkeit steht hoch im Kurs. Dann gibt es immer mehr Singlehaushalte. Manche entscheiden sich freiwillig, allein zu leben, andere finden keinen Partner oder keine Partnerin. Eine weitere Tendenz ist die Normalisierung von Bisexualität. Immer mehr Menschen verweigern sich festen Labeln, dadurch werden bisexuelle Beziehungen normaler. Damit geht gleichzeitig eine Abschwächung der heterosexuellen Norm einher. Und auch Polyamorie scheint mir im Kommen zu sein, also Menschen, die offen mit mehreren PartnerInnen in Liebesbeziehungen zusammenleben. Übrigens waren auf diesem Feld wieder schwule Männer die Pioniere. Sie hatten einen Hauptpartner und mehrere lockere Beziehungen zu anderen Männern. Das wird mehr und mehr auch von heterosexuellen Partnerschaften imitiert.
Was ist eigentlich aus der Emanzipation von Männern geworden? Diese werden heute auch immer mehr zu Sexobjekten. Ist das nun gerecht gegenüber Frauen, weil die ja auch ständig über ihre Körper vermarktet werden oder ist beides schlecht?
Na, wenn Sie die Gesellschaft vom Patriarchat befreien wollen, müssen Sie Frauen und Männer gleichermaßen befreien. Zuerst kommen natürlich die Frauen… Aber an dieser Stelle möchte ich als Feministin gerne konsequent bleiben. Wenn ich fordere, Frauen dürfen nicht stigmatisiert und auf ihr Äußeres reduziert werden, sollten wir den Männern ebenfalls zubilligen, sein zu dürfen, was sie wollen – ohne stigmatisiert zu werden.
Und die sogenannten neuen Männer? Sie schreiben in Ihrem Essay, Grey sei ein Vertreter des neuen Mannes, ein hypermaskuliner, sehr besitzergreifender Typ Mann. In Deutschland gelten jene Männer als modern, die ihre Soft Skills perfektionieren, also gut zuhören können, ihre Kinder im Tuch tragen und auch mal weinen.
Ich sehe den Diskurs über die Schwäche der neuen Männer als eine Reaktion gegen die vielen Veränderungen, die Männer in den letzten Jahrzehnten durchlaufen haben. Diese Abwehr kommt ziemlich sicher aus konservativen Lagern. Es ist sehr viel einfacher, Gesetze zu ändern als kulturelle Strukturen. Und die Frage, was es bedeutet, Mann oder Frau zu sein, besonders maskulin oder feminin oder besonders attraktiv zu sein, ist unglaublich tief in unserer Kultur verankert und sehr schwer zu ändern. Einer der Gründe, warum das so schwer zu ändern ist, sind hypermaskuline Entwürfe von Männern wie Brad Pitt oder Tom Cruise, die unglaublich gut mit der kapitalistischen Vermarktung des Körpers harmonieren. Wir haben feste Normen, was wir bei Männern und Frauen als sexy und attraktiv ansehen. Das empfinde ich als unglaublich kontraproduktiv, wenn es um die Befreiung von Frauen und Männern geht. Ich bin also voll für Nerds und Geeks!
Sie begreifen sich als Feministin. Warum werden Sie aus diesen Lagern oftmals ziemlich harsch kritisiert?
Oh, da müssen Sie diejenigen fragen, die mich kritisieren… Nein, im Ernst, das hängt ziemlich sicher mit meinem Beruf zusammen. Als Soziologin bin ich ganz Agnostikerin. Ich verurteile nicht, ich moralisiere nicht, ich beobachte und schlussfolgere daraus. In diesem Sinne bin ich sehr unpolitisch. Lassen Sie es mich an „Shades of Grey“ erklären. Als Bürgerin kann ich das Buch natürlich bewerten, sagen: Das hat mir gefallen oder nicht. Als Kultursoziologin liegt mir mehr daran zu fragen: Warum kommt ein Buch bei Frauen so gut an, das zu gleichen Teilen sehr konservative und ein paar quasi-feministische Botschaften enthält? Ich verreiße das Buch nicht. Stattdessen sage ich: Lasst uns selbst diesen ziemlich vulgären Feminismus ernst nehmen, den das Buch bereithält. Und vor allem: Lasst uns das Vergnügen ernst nehmen, das Menschen bei der Lektüre empfinden.
■ Anne-Sophie Balzer, 25, ist sonntaz-Autorin. Sie findet SM interessant, hat aber Angst vor Handschellen und Darkrooms
■ Martin Reichert, 40, ist sonntaz-Redakteur und Verträge gewohnt. Handschellen mag er nicht