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Archiv-Artikel

Die Berliner Sektion der Allwissenden

Das Online-Lexikon Wikipedia lebt vom Wissen seiner Nutzer. In Berlin hat sich aus den anonymen Autoren eine kleine Community gebildet. Es sind fast nur Männer, in der Mehrheit Freaks. Sie schreiben über Friedhöfe, Fruchtschorle, den Friedrich-Leopold-Kanal oder die Förderung des freien Wissens

von Martin Machowecz

Necrophorus, der Totengräber, ist eine imposante Gestalt: Ein dichter Bart wuchert über sein Kinn und die Wangen, die langen schwarzen Haare sind zum Zopf gebunden. Wer im Online-Lexikon Wikipedia stöbert, findet diesen Namen unter Artikeln über Friedhöfe: über den der Märzgefallenen, über den Invalidenfriedhof an der Scharnweberstraße, auch über den Parochialkirchhof. Necrophorus liebt die düsteren Orte Berlins – und macht sie so weltweit bekannt. Es ist eine seltsame Beziehung.

Achim Raschka, wie Necrophorus im wahren Leben heißt, ist der wohl fleißigste Wikipedia-Autor der Stadt. In Berlin gibt es hunderte davon – wie viel genau, weiß keiner. Nicht alle sind so aktiv wie Raschka. Und nicht alle suchen sich so ungewöhnliche Themen aus. Doch Friedhöfe gehören zum Wissen dieser Welt, das Raschka und tausende andere Wikipedianer zusammentragen wollen.

Wikipedia ist eine Enzyklopädie, die ständig erweitert wird. Irgendwann einmal könnte das gesamte Wissen der Welt in ihr enthalten sein. Jeder darf mitschreiben und -lesen, niemand wird ausgeschlossen. Wikipedia ist kostenlos und frei zugänglich. Viele Menschen stecken jede Menge Freizeit in das Projekt, offensichtlich, ohne etwas zurückzubekommen.

Dass er irgendwie ein Freak ist, gibt der Wahlberliner Raschka selbst zu. „Die Grabsteine faszinieren mich“, sagt der 34-Jährige. Der studierte Zoologe will ein ganzes Kompendium über die letzten Ruhestätten verfassen. Er möchte das ganze städtische Bestattungswesen aufrollen, die Geschichte der Begräbnisstätten erforschen, aufschreiben und für die Nachwelt festhalten. „Das ist so spannend“, sagt er. „Allein die Hermannstraße hat acht Friedhöfe, über die man schreiben kann.“ Darum hat er auch einen riesigen Artikel über die ganze Straße geschrieben, die quer durch Neukölln führt.

Als Zoologe hat Raschka nie gearbeitet: Nach dem Studium wurde seine Frau schwanger, zwei Jahre lang war er nur Vater. Dann fand er einen Job – bei einem Verlag, der Wikipedia-Artikel zu Büchern machen will (siehe Kasten). Früher hat Raschka acht Stunden täglich in Wikipedia investiert. Inzwischen sind es elf. Während der Arbeitszeit und danach. Zwei, drei Stunden pro Nacht gehören dem Lexikon. Kinder und Ehefrau müssen da durch. „Die Kinder liegen schon im Bett, wenn ich losarbeite. Und meine Frau kommt damit klar.“

Ausgedehnte Fahrradtouren waren es, die den gebürtigen Lippstädter zum Schreiben brachten. „Als Radfahrer sieht man echt viel. Und vieles ist so spannend – gerade für mich als Nicht-Berliner.“

Das, was er nicht kennt, beschreibt Raschka am liebsten. „Superinteressant finde ich die Kopernikusstraße. Auf der wohne ich. Aber mich hat auch das Neue Königliche Opernhaus interessiert, das nie gebaut wurde – es was mir einen Artikel wert.“ Den Text zum Opernhaus hat Raschka fast alleine geschrieben. Irgendwann hat dann doch einmal ein anderer User etwas ergänzt.

Dem Prinzip des Weblexikons folgend können Artikel immer wieder von anderen Autoren bearbeitet, umgeschrieben, korrigiert werden, schlimmstenfalls auch verhunzt. Aber man kann bei Wikipedia alles rückgängig machen. Übrigens auch den Nicknamen: Inzwischen heißt Raschka online nicht mehr Necrophorus, sondern schlicht Achim Raschka.

Der 34-Jährige freut sich über Zusammenarbeit mit anfangs oft Unbekannten und dass andere Leute sich mit seinen Texten beschäftigen und sie verbessern. Manchmal wird über jede Änderung diskutiert. Die Wikipedianer kommen so in Kontakt. Deshalb kennen sich viele der Berliner Engagierten persönlich. Wikipedia ist eine große Community. „Man trifft auf Menschen aus allen Richtungen. Bibliothekswissenschaftler genauso wie Informatiker“, sagt Raschka. Der gemeine Wikipedianer ist wirklich kein Abkapsler – sondern vielmehr ein Gesellschaftsmensch, der Gleichgesinnte am Computer kennen lernt. Wikipedianer sind Spinnen, die ein Netz bauen und damit neue Mitglieder fangen.

Manche sind Bibliothekswissenschaftler und Informatiker gleichzeitig. Wie Jakob Voß, ein guter Bekannter von Achim Raschka. Die beiden haben weitere gemeinsame Wiki-Kumpels. „Die Community und die Kontakte reizen mich“, sagt Voß. Sein Studium und seine Leidenschaft ergänzen sich super, findet er: „Sowohl die Bibliothekswissenschaft als auch Wikipedia verwalten Wissen.“

Auch Jakob Voß ist ein Freak. Gebürtiger Göttinger, Nickname: „Nichtich“. Voß ist 26 Jahre alt, studiert im 13. Semester, steht aber „kurz vor dem Abschluss“. Farbkleckse kleben auf seinen Springerstiefeln. Er trägt längere Haare, hat ein freundliches Gesicht. „Nichtich“ macht vor allem Vereinsmeierei: Als Vorstandsmitglied der „Wikimedia“-Gesellschaft zur „Förderung des Freien Wissens“, also des Vereins, der zwar die deutsche Wikipedia nicht betreibt, sie aber pflegt, macht er PR-Arbeit, hält Vorträge, kurbelt Projekte an.

Jakob Voß opfert dafür viel Zeit. Die freie Enzyklopädie braucht Menschen, die große Teile ihres Lebens für sie hergeben. „Deshalb gibt es da fast nur ledige Männer.“ Singles haben Zeit. Zeit zum Schreiben, aber auch um sich Wissen anzueignen. Hier Frauen zu finden ist beinahe unmöglich.

Patrick Danowski ist durch Wikipedia ein Freund von Jakob Voß geworden. Auch er will mal Bibliothekar werden. Früher gab sich der gebürtige Delmenhorster gutbürgerlich. „Da war ich noch angepasster.“ Er hat seinen Grundwehrdienst ohne Murren abgeleistet. Heute gäbe es das für ihn nicht mehr. „Ich bin anders geworden.“ Dazu gehört, dass er als Punk Techno hört – und dass er Wikipedia macht. „Klar, zum Schmökern braucht man Bücher. Aber so ein Lexikon ist elektronisch schon was Schönes“, sagt er.

Seinen Jahresurlaub opfert er fürs Lexikon, zehn Stunden pro Woche gehen ohnehin drauf. Seit Jahren hat er kaum einen Stammtisch verpasst. Einmal im Monat treffen sich die aktivsten Berliner in der „C-Base“ in der Rungestraße, im Schnitt kommen 20 bis 30 Besucher.

Zu den Aktiven, die nicht ins Raster zu passen scheinen, gehört Alexander Klimke: jung, erfolgreich, Karrierist aus Steglitz. Sein Nickname ist „Berlin-Jurist“ – das sagt einiges. Klimke ist Strafverteidiger und wahrscheinlich das, was Patrick Danowski „angepasst“ nennen würde. Er spaziert im auberginefarbenen Rollkragenpullover mit langem Mantel über die Straßen seines Bezirks, besucht Mandanten – und kann in den Arbeitspausen nicht die Finger vom Onlinelexikon lassen.

Klimke hat schon Lexikon-Abhandlungen über Wortungetüme wie die Plausibilitätskontrolle geschrieben, über Getränke wie Limonade und Fruchtschorle, aber auch Berliner Themen wie den Wannsee und den Prinz- Friedrich-Leopold-Kanal. Und er ist stolz auf die politischen Kompetenzen, die man ihm bei Wikipedia nachsagt.

Die Arbeit für die Enzyklopädie ist Klimkes gute Tat für die Allgemeinheit. „Das ist soziales Engagement für einen guten Zweck“, sagt er. Und: „Keiner würde den Esel machen für jemanden, der abkassiert. Aber für ein kostenloses Lexikon arbeiten – das tue ich gerne.“

Infos über Berliner Wikis: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Berlin