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Archiv-Artikel

Verdrängung in der Wüste

Wie sich Krieg und Nachkriegszeit im Gedächtnis einer großen Familie festgesetzt haben und dabei jede Generation eine eigene Version der Geschichte hat: Tanja Dückers lässt in ihrem Roman „Der längste Tag des Jahres“ fünf Kinder über ihr Verhältnis zu ihrem gerade verstorbenen Vater nachdenken

Der Nachteil von Tanja Dückers’ Romankonstrukt ist, dass fünfmal die gleiche Geschichte variiert werden muss

von HEIKE RUNGE

Der Vorgang selbst ist banal. An einem heißen Sommertag erhalten vier Geschwister, alle im mittleren Erwachsenenalter, einen Anruf. Jeder ist gerade irgendwo in seinem Alltag unterwegs, mitten im Umzugschaos oder beim Kaffeetrinken. Es wird nach dem Hörer gegriffen, mechanisch bis genervt. Am anderen Ende die Mutter, die sagt, dass der Vater am Vormittag gestorben ist. Sprössling Nummer fünf erreicht die Todesnachricht Wochen später brieflich in der kalifornischen Mojave-Wüste. Paul Kadereit, Jahrgang 1941, ist nach einem Hitzschlag in seinem Imkerhäuschen im Garten plötzlich tot umgefallen.

Fünf Biografien und fünf Erzählungen, die das je unterschiedliche Verhältnis zum Vater, dem Zentralgestirn im familiären Beziehungssystem, zur Sprache bringen. Eingefangen in dem Moment, in dem das Wissen um seinen Tod ins Bewusstsein dringt. Das ist das formal ziemlich strenge Konstrukt in Tanja Dückers neuem Roman „Der längste Tag des Jahres“. Es hat den offenkundigen Nachteil, dass fünfmal die gleiche Geschichte variiert werden muss und sich die Idee mit der dritten Wiederholung abzunutzen beginnt. In jedem Fall ist die Auftaktgeschichte die schönste, dichteste und verstörendste des gesamten Buchs. Sie schildert das Ereignis aus der Perspektive des zweitjüngsten Sohns Benny, eines Spätdreißigers, dessen Journalistenkarriere schon früh endete und der sich seitdem in Berlin mit eigener Kiezgalerie und Stadtteilmagazin durchschlägt. Gerade ist er mit seiner Freundin in die erste gemeinsame Wohnung gezogen und dabei, einen alten Schrank, ein Familienerbstück, zu streichen, als er den Anruf bekommt. Benny ist jemand, der den Tod von Paul gar nicht als Verlust empfinden kann, weil dieser Mann eigentlich nie als Vater, nur als Versorger, anwesend war. Für seinen Vater und dessen Obsession für Wüstentiere schämt er sich. Nicht so, wie sich Kinder irgendwann vor anderen für ihre Eltern schämen, sondern ganz grundsätzlich, auch an dessen Todestag. Traurigkeit entsteht in Dückers’ Roman gerade durch die Abwesenheit von Trauer in einer Situation, in der sie einfach dazuzugehören scheint.

Benny und seine Geschwister sind in den idyllischen, befriedeten und konsumistischen Siebzigerjahren aufgewachsen; Paul Kadereit ist ein Kriegskind, ein Halbwaise, der seinen im Kriegseinsatz erschossenen Vater nicht gekannt hat. Der Kriegsjahrgang des Vaters, dessen Kindheit noch von den Nazis gestreift wurde, ist die große kulturelle Wasserscheide, die die Elterngeneration von den Kindern trennt.

Wie in Dückers’ Roman „Himmelskörper“ (2003), der von den Mythen im Umgang mit der Geschichte des untergegangenen Lazarettschiffs „Wilhelm Gustloff“ handelt, geht es auch in diesem Buch ganz subtil darum, wie sich Krieg und Nachkriegszeit im Gedächtnis einer Familie tradiert haben und wie jede Generation eine eigene Version der Geschichte hat. Entstanden ist das melancholisch-kuriose Porträt einer Familie, die nach dem Krieg geglaubt hatte, das Schlimmste hinter sich zu haben, sich aber nie getraut hat, über das, was war, zu sprechen und die eigene Alltagsverstrickung und Korrumpiertheit des Denkens und Handelns zuzugeben oder darüber zu reden.

Das Generationenthema ist es dann auch, das diesen Roman mit Tanja Dückers’ szenegesättigten Prosaarbeiten aus den Neunzigerjahren verbindet. Insofern ist die Hinwendung der unter dem Label Popliteratur gestarteten Autorin zu den geschichtsträchtigen Stoffen längst nicht so verwunderlich, wie manche „Himmelskörper“-Rezensenten Glauben machen wollten. Von „Spielzone“, der Coming-of-Age-Geschichte im Neunzigerjahre-Berlin bis zur Familienbiografie – das sieht weniger nach einem abrupten Themenwechsel als nach einer plausiblen Weiterentwicklung aus.

Das Problem ist eher, dass Tanja Dückers ihren pointierten Erzählmodus und die episodische Form des Patchworkromans beibehalten hat. Eine Form, die wunderbar funktionierte, als es um das Abschildern von Berliner Submilieus der Neunzigerjahre ging, die jetzt aber diesen über drei Generationen erzählten Stoff nicht mehr bändigen kann.

Man weiß zwar am Ende, dass die Terrarienleidenschaft des Vaters und der Flucht des jüngsten Sohns in die bizarre Landschaft der Mojave-Wüste viel mit dem verdrängten Tod des Großvaters im tunesischen Sand zu tun haben, aber wie die Figuren und ihre Geschichte nun genau ticken, wird oft ausgespart. So bleibt manches bloße Behauptung, wird manches Motiv nur angetippt, aber nicht ausgeführt. Das ist schade, denn die einzelnen Biografien wären es allemal wert gewesen, ausführlicher erzählt zu werden.

Tanja Dückers: „Der längste Tag des Jahres“. Aufbau Verlag, Berlin 2006, 213 Seiten, 18,90 €