: Die Erinnerungslücken bleiben
VON JAN FEDDERSEN
Peter Eisenman wie auch Lea Rosh haben heute allen Grund, sehr zufrieden zu sein. Der Architekt des Holocauststelenfeldes am Brandenburger Tor wie auch dessen Promoterin brauchen nicht einmal Zahlen über die Besucherscharen im Dokumentationszentrum – ein Jahr nach der Eröffnung dieses Prestigeprojekts. Ein Augenschein selbst am späten Abend genügt: Dieses Mahnmal ist eines, das man „gern mal besucht“ (so der einstige Kanzler Schröder). Eine Attraktion für Touristen, auswärtige wie auch Berliner, die das Mobiliar im Innersten ihrer Stadt besichtigen wollen – auch dieses.
Nichts ist wahr geworden von dem, was, möglicherweise lustvoll, befürchtet wurde: keine Schändung, keine Aversionsbekundungen überhaupt, nichts, was im öffentlich messbaren Bereich läge. Dafür ein sittsamer Umgang mit dem, was es ist – neugierstiftend, weil es nichts sein will, jedenfalls nichts Genaues. Eisenman, der auf die Frage, was man sich denken solle, gehe man durch das Feld, antwortete, was man wolle, hat mit seinem freisinnigen Vertrauen in den taktvollen Lauf der Dinge Recht behalten: Das Holocauststelenfeld irritiert alle anders.
Begraben, vergessen ist freilich auch die Debatte, ob das Stelenfeld nun dem Mord an den europäischen Juden allein gewidmet sein soll – oder allen Opfern des Nationalsozialismus. Lea Rosh wollte dies partout nicht – und niemand widersprach ihr vor Jahren energisch, denn jene, um die es auch hätte gehen können, waren ja fast noch Schmuddelkinder der Republik: Zigeuner und die warmen Brüder, um die damals volkstümlichen Bezeichnungen für Roma und Sinti wie Homosexuelle zu nennen.
Rosh selbst wies 1996 in einer Diskussion darauf hin, dass sie eine große Freundin eines den Homosexuellen gewidmeten Mahnmals sei – aber der Holocaust dürfe mit dem Terror gegen und dem Töten von schwulen Männern nicht in einen Topf geworfen werden. Die autonome Suche nach dem, womit der KZ-Häftlinge mit dem Rosa Winkel (rosa war stigmatisierend gemeint: die Textilfarbe weiblicher Säuglinge – denn Schwule konnten ja keine Männer sein), gedacht werden kann, begann zwar schon 1993, aber ein Mahnmal im Zentrum der Hauptstadt, das Teil der Erinnerungslandschaft zu sein beanspruchte, bekam als Idee erst Ende der Neunziger Kraft. An ihr beteiligt waren schwule Historiker und Bürgerrechtler, auch die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft wie das Schwule Museum, und während der Kanzlerzeit Gerhard Schröders vor allem die Grünen. Der UnterstützerInnenkreis war ein freundlicher Querschnitt der erinnerungspolitischen Korrektheitsszene – auszugsweise seien Paul Spiegel, Lea Rosh, Günter Grass, Christa Wolf, Romani Rose, Györgi Konrad, Walter Jens, Marianne Birthler, Frank Bsirske und Margot Kässmann genannt.
Andere Erinnerungsorte gab es zwar, in Frankfurt am Main, in Köln, auch in Berlin, meist jedoch in den schwulen Stadtquartieren, nicht, darauf kommt es an, in der repräsentativen Mitte der Republik. Am 12. Dezember 2003 beschloss der Bundestag auf Antrag der rot-grünen Fraktionen, den vom Nationalsozialismus verfolgten schwulen Männern ein Mahnmal zu widmen. Der künstlerische Wettbewerb dauerte schließlich bis Anfang dieses Jahres – gekrönt ist nun ein Zitat dessen, was Peter Eisenmans Holocauststelenfeld verkörpert. Einer der Künstler, Michael Elmgreen, beschrieb diese Anleihe so: „Es ist, als wenn einer der Blöcke vom Holocaustdenkmal nächtens über die Straße gelaufen wäre, sich in den Wald gestellt hätte und nun sagt: Seht her, ich bin ein Teil der ganzen Geschichte, ich bin aber auch etwas Eigenes. Ich bin schwul.“
Das könnte kaum schöner gesagt werden – markiert Elmgreens Statements die feinen Unterschiede in den vergangenheitspolitischen Debatten der Nachkriegszeit insgesamt. Das Jüdische steht solitär für das Menschheitsverbrechen schlechthin – der Rest der Folgen des völkischen Wahns steht mindestens ein wenig an der Seite. Aber Mäkelei zählt nicht – es sei, wie es kommen könnte. Denn obzwar in der Akademie der Künste am Brandenburger Tor die verschiedenen Entwürfe des Mahnmals zu besichtigen sind – und niemand bestreitet ernsthaft, dass es eines repräsentativen Erinnerungsortes Homosexueller bedarf – ist das, worauf es auch ankäme, nicht in den Mühen um diese Skulptur explizit eingeschrieben. Dass der Terror gegen Homosexuelle nicht mit dem 8. Mai 1945 aufhörte, sondern erst 1969 endete. Die christlichen Regierungen und ihre bundesdeutschen Eliten feuerten die Verfolgung gegen Homosexuelle erst noch an – Karlsruhe ließ höchstrichterlich noch in den Fünfzigern verkünden, die Verfolgung von Homosexuellen zwischen 1933 und 1945 sei nicht spezifisch nationalsozialistisch. Tausende wurden mit dem von den Nazis 1935 entgrenzten Paragrafen 175 rechtsstaatlich verfolgt, ins Gefängnis gewiesen: Er hatte bis zur Reform des Sexualstrafrechts Geltung. Schwule mussten wieder ins Exil gehen; Homosexuelle wurden, wie vor 1945, von NachbarInnen und KollegInnen beim Arbeitgeber, bei der Polizei angeschwärzt und die Drohung existierte, die bürgerliche Existenz zu verlieren, wenn es herauskommt – das waren rechtlich gesichert die Jahre bis 1969. Die New Yorker Sexualhistorikerin Dagmar Herzog sagte dazu kühl: „Der Furor war auch ein Teil der konservativ-christlichen Vergangenheitsbewältigung der ersten Jahre der neuen Demokratie – nur mit einer christlichen Renaissance“ sei die braune Ära des Antichristlichen zu tilgen. Ein Roman eines Homosexuellen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit hieß „Im Frühwind der Freiheit“ – ein Missverständnis. Das Gros der Richter, die bis 1945 aburteilten, sprach nach der Kapitulation weiter Recht: Nun nicht mehr völkisch grundiert, sondern im Geiste einer Säuberung von Schmutz und Schande, wie der Jurist Herbert Jäger, einer der wichtigsten intellektuellen Lobbyisten einer Linderung des antihomosexuellen Zeitgeistes in seinem Buch „Sexualität und Verbrechen“ (1965), sich erinnert.
Die Bundesrepublik spielte rechtlich damals eine Sonderrolle. All das, was in der westlichen Welt an Liberalisierungen in den Geschlechterbeziehungen heute durchgesetzt scheint, war in Skandinavien, den Niederlanden, auch in Frankreich oder Großbritannien, längst in Arbeit – der bundesdeutsche Terror von Rechts wegen speiste sich aus der christlich grundierten Anmaßung, lockere Sexualsitten, wie von den säkularen Strömungen der Nazis gefördert, hätten den Krieg (und, das war ihr wichtigstes Problem, das Ansehen Deutschlands) verlieren lassen.
Diese politische, und zwar: schuldhafte Verstrickung der Bundesrepublik in ausdrücklich nationalsozialistische Erbschaften bleibt in dem Mahnmalsprojekt tonlos. Mehr als das, was die (heterosexuelle) Majorität zubilligt, ist freilich nicht zu haben: Besser, da sind sich die Befürworter der Stele im Tiergarten einig, ist es, eines zu haben – als überhaupt keines dort installieren zu können. Klug analysiert. Denn in Bund und Ländern sitzt jene Partei in den Regierungen, deren Vorfahren die frühbundesdeutsche Rechtskriminalität gegen Homosexuelle weder verhindert haben noch es wollten: Sie fanden es, so ihre damalige Staatsraison, völlig in Ordnung.
Läuft alles nach Wunsch der Initiative „Gedenkort für Homosexuelle“, beschließt der Bundestag bald, die Skulptur bauen zu lassen – und in einem Staatsakt zu einem Teil der deutschen Erinnerungslandschaft zu nobilitieren. Nächstes Jahr könnte mit dem Bau begonnen werden – und die kleine Lichtung im Tiergarten zwischen Potsdamer Platz und Straße des 17. Juni wäre ein famoser topografischer Fokus für das, was die Sache meint: Homosexuelle sind dabei – und doch etwas in die dschungelartige Botanik abgeschoben. Ein politisches Gedenken an das, was in die Verantwortung der Bundesrepublik, nicht nur als Rechtsnachfolgerin des nationalsozialistischen Regimes, fällt, steht aus.