: Die Kunst, den richtigen Ton zu treffen
EINSATZ Der Pianist Stefan Schmidt hat Wohnungslose für einen „Straßenchor“ rekrutiert, sie singen alles von Nena bis Mozart. Auch der Chorleiter musste einiges lernen – aber das Projekt geht nun schon ins fünfte Jahr
■ Der Berliner Pianist Stefan Schmidt sammelte 2009 Obdachlose um sich und gründete mit ihnen den Straßenchor. Die erste CD – Popsongs, zweistimmig gesungen – folgte drei Monate später. Bisheriger Höhepunkt: ein Auftritt mit Orffs „Carmina Burana“ in der Philharmonie.
■ Der Chor probt immer donnerstags, von 19 bis 20.30 Uhr im Gemeindesaal der Zwölf-Apostel-Kirche (An der Apostelkirche 1, U-Bahnhof Kurfürstenstraße). Jeden ersten Donnerstag im Monat können Besucher vorbeischauen.
■ Im Dezember 2012 gründete Schmidt den Förderverein „Der Straßenchor e. V.“. Der Chor finanziert sich ausschließlich über Spenden. Mehr auf www.derstrassenchor.com. (akl)
VON ANNA KLÖPPER
Plötzlich stand da dieser Mann auf dem Alexanderplatz und fragte ihn, ob er nicht Lust habe, in einem Chor mitzusingen. Tom fand das so verrückt – „Icke innem Chor? Juter Witz!“ –, dass er beschloss, tatsächlich mal vorbeizuschauen. Er war damals obdachlos, genau wie alle anderen, die der Berliner Konzertpianist Stefan Schmidt im Sommer 2009 für seinen „Straßenchor“ rekrutierte. Tom kam zur ersten Probe – und danach immer wieder: „Ick hab jemerkt: Komisch, dit macht ja richtig Spaß.“
Ein Donnerstagabend im Gemeindehaus der Zwölf-Apostel-Kirche an der Kurfürstenstraße, an der Grenze zwischen Schöneberg und Tiergarten. Draußen frieren die Frauen auf dem Strich, drinnen riecht es warm nach Kohlsuppe, die es am Ende für alle geben wird. Gleich ist Chorprobe, wie jeden Donnerstag. Etwa 25 Männer und Frauen sind gekommen. Die Jüngste: 19 und mit Kind an der Hand, die Älteste 65, mit blauer Strähne im Haar und Piercing im Kinn. Sie wärmen sich die Finger an Früchtetee und warten darauf, dass Stefan Schmidt sich an das Klavier mitten im Raum setzt. Endlich klatscht der in die Hände, die Letzten schlurfen mit Teetassen in der Hand in Position, ein anschwellendes „Ohhhh“ tönt durch den Saal. Schultern straffen sich, Teetassen werden zur Seite gestellt – und dann intoniert Olli, Typ Türsteher, Leonard Cohens „Hallelujah“ mit einer Zärtlichkeit, die staunen macht.
Schmidt, der in London Klavier studiert hatte, war 2009 gerade nach Berlin gezogen, als er die Jugendlichen sah, die auf dem Alexanderplatz herumhingen, schnorrten und Gitarre spielten. „Manche hatten echt Talent“, sagt der 48-Jährige. „Da kam mir der Einfall mit dem Chor.“ Die Idee: die Leute von der Straße holen, wenigstens einmal die Woche für die Probenstunde. Vielleicht, so Schmidts stille Hoffnung, würde die Musik ja einigen eine Perspektive geben, die über den Alexanderplatz hinausginge. Er fragte beim Senat nach Fördermitteln, dort fand man das Konzept gut, Geld gab es trotzdem keins: „Die wussten nicht, wo sie uns hinstecken sollten: Kultur oder Soziales“, sagt Schmidt. „Ein Amt hat uns ans andere verwiesen.“
Genug Stoff für eine Doku
Am Ende landete der Musiker, der Meisterkurse gibt und unter anderem mit der Staatskapelle zusammenarbeitet, bei ZDFneo. Der Digitalableger des Mainzer Fernsehens fand, dass der Chor genug Stoff für eine Langzeitdoku hergebe. Der Deal: Die Potsdamer Produktionsfirma UFA besorgt die Räumlichkeiten, dafür ist immer die Kamera dabei. Eine erste Dokumentation entstand zum Projektstart 2009, ein zweiter Teil („Vier Jahre danach“) wurde Ende Dezember gezeigt. „Mit einem Mal war das eine ziemlich große Sache“, denkt Schmidt zurück. „Da war einerseits die Erleichterung, endlich anfangen zu können, andererseits war plötzlich ganz schön Druck da.“ Die Möglichkeit des Scheiterns vor laufender Kamera.
Er scheiterte nicht. Schmidt zog los, mit zwei szenekundigen Sozialarbeitern und dem ZDF im Schlepptau, zum Alex, zum Zoo: „Ich gründe einen Chor, hast du Lust, mitzumachen?“ In der Szene erzählte man sich von dem Verrückten, am Ende kamen 40 „schwarze Gestalten“ (Tom). Zweieinhalb Jahre später, im Januar 2012, sangen sie Carl Orffs „Carmina Burana“ in der ausverkauften Berliner Philharmonie. „Ohh, dit war was“, sagt Tom und schüttelt den Kopf. „Da hab’ ick richtig jezittert. Und als es dann jeschafft war, da war allet jut.“
Mit einfachen zweistimmigen Popsongs habe man angefangen, erzählt Schmidt: „Ich war noch niemals in New York“, „Wunder geschehen“. „Unser allererstes Lied war ‚Only Time‘ von Enya. Da gibt’s nur drei Noten.“ Das Schwierigste, sagt Schmidt, sei es gewesen, ein Gespür dafür zu entwickeln, was möglich ist und was nicht. Schmidt war Professionalität gewohnt, die Obdachlosen brachten vor allem Emotionalität mit. Viele könnten mit Kritik nur schwer umgehen und würden dann am liebsten gleich alles hinschmeißen, so der Leiter: „Da den richtigen Ton zu treffen, und auch zu akzeptieren, dass es langsamer vorangeht als mit den Profis, das musste ich lernen.“ Wenn sein Chor, für den er sogar Engagements absagen musste, herumalberte statt zu üben, hätte Schmidt manchmal am liebsten hingeschmissen.
Er tat es nicht, genauso wenig wie seine Schüler: Rund die Hälfte der ursprünglichen Besetzung ist heute noch regelmäßig dabei. Und einige haben sogar tatsächlich für sich einen Weg aus der Obdachlosigkeit gefunden. Cookie zum Beispiel. Die heute 19-Jährige wohnte 2009 auch unter dem Fernsehturm, nachdem sie zu Hause rausgeflogen war. Jetzt hat sie mit ihrem zweijährigen Sohn eine Wohnung in Hellersdorf gemietet und macht gerade ihr Abitur am Abendgymnasium. Danach will sie studieren, Soziale Arbeit. Als das mit dem Chor so gut gelaufen sei, „da habe ich mir überlegt, wenn das möglich ist, dann auch noch mehr“. Sie denkt einen Augenblick nach. „Naja, jeden neuen Schritt musst du natürlich trotzdem alleine schaffen.“
Die Musterschülerin
Cookie, die eigentlich Kim heißt, ist sozusagen die Musterschülerin des Projekts, das mittlerweile einen eingetragenen Förderverein hat und sich ausschließlich über Spendengelder finanziert: für das gemeinsame Essen nach den Proben, für den Klavierstimmer, für die Weihnachtsfeier. Das Beispiel von Cookie, der zierlichen Frau mit dem Schneewittchengesicht, zeigt, was aus einer Idee wie der von Stefan Schmidt im besten Fall werden kann.
Toms Beispiel zeigt die Grenzen, die einer solchen Idee gesetzt sind. Er lebt immer noch auf der Straße: „Ick hab’s mal versucht inner richtigen Wohnung, ging nicht mehr.“ Mal kommt er zu den Proben, meistens nicht. An dem Donnerstagabend Ende Dezember ist er seit drei Monaten zum ersten Mal wieder dabei. „Schön waret, wie immer“, sagt er, als zum Schluss die letzten Takte von Nenas „Wunder geschehen“ verklungen sind. Und nächste Woche, kommt er da wieder? „Mal gucken.“
Und doch, sagt Schmidt: „Es gibt immer wieder diese kleinen Momente, da weiß ich, warum es dieses Projekt gibt.“ Im Moment proben sie für ein Konzert im Februar, in der Zwölf-Apostel-Kirche. „Mozart, stellen Sie sich das mal vor! Und dann auch noch gleich ‚Ave Verum Corpus‘, so was richtig Pastorales!“ Am Anfang hätten seine Sänger noch Gift und Galle gespuckt, als er ihnen den „Gefangenenchor“ aus Verdis „Nabucco“ auch nur vorgespielt habe. „Tja“, sagt Schmidt trocken, „Wunder geschehen.“