: Konditionsstark schweigen
Wo Existenzbedrohung war, ist heute Schmerbauch und Fernsehen. Luk Perceval hat Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ in der Schaubühne inszeniert. Mit sehr viel Feinripp und einem Dschungel in Töpfen
„Als ich siebzehn war, bin ich in den Dschungel, und als ich einundzwanzig war, kam ich wieder heraus. Und bei Gott: Ich war reich.“ Spricht Onkel Ben – die Karikatur des amerikanischen Traums – in Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ zu den Söhnen seines Bruders Willy Loman. Den Dschungel darf man dabei durchaus in seiner ganzen Bedeutungsbreite verstehen – von der wirtschaftlich ausbeutbaren Wildnis bis zur Metapher für fehlgeleitete archaische Männlichkeitsfantasien.
Was passiert, wenn man Onkel Bens Karriereberatung in den Wind schlägt, zeigt Luk Percevals Schaubühnen-Inszenierung mit durchschlagender Eindeutigkeit. Der Dschungel, eine gigantische Ansammlung übermannshoher Grünpflanzen in Töpfen, steht als verflossene Verheißung im Zentrum von Katrin Bracks Bühnenbild. Davor: Die Familie Loman beim kollektiven Fernsehen auf Kunstledermobiliar, in Unterwäsche. Ein schönes Bild für die Tyrannei familiärer Intimität: So, wie man sich hier seit Jahren gegenseitig seine Schmerbäuche zumutet und gedankenverloren in ausgeleierten Feinrippunterhosen kratzt, geht man sich mit seiner Antriebsarmut nachhaltig auf die Nerven.
Willy Loman, der in die Jahre gekommene Handlungsreisende, wird von seiner Firma ausgemustert. Die Söhne Biff und Happy – in ihren frühen bis mittleren Dreißigern – können weder renommeeträchtige Jobs noch Grundbesitz oder Familiengründungen vorweisen.
Und Frau Loman schweigt konditionsstark zu den neuesten Nachrichten zur Gesundheitsreform. Denn damit wir gleich wissen, dass Perceval das 1949 in New York uraufgeführte Stück für uneingeschränkt gegenwärtig hält, ödet sich die Familie hier über einem tagesaktuellen Fernsehprogramm an. Arthur Millers Abrechnung mit dem amerikanischen Traum ist eine verzweifelte Selbstbetrugstragödie: Willy Loman verliert sich förmlich in Tagträumen von früheren Zeiten, in denen für ihn selbst noch nicht alle Türen geschlossen und die Söhne klein und allein schon deshalb mittelbar aussichtsreich waren.
In Percevals Aufführung – einem nahezu identischen Remake seiner Inszenierung des „Handlungsreisenden“ 2004 am Het Toneelhuis Antwerpen, die letztes Jahr auch in der Schaubühne gastierte – hat der Vertreter noch nicht einmal mehr die Kraft zum Realitätsverlust. Statt sich in regressiven Träumen zu verfangen, steht der wunderbare Thomas Thieme, der seine Familie nurmehr mit latent aggressiven Loserparolen vor den Kopf stößt, dann doch ziemlich solide auf desillusioniertem Grund.
Die Lebenslüge ist so ausgehöhlt, dass man sich gar nicht länger bemühen muss, sie aufrecht zu halten; stattdessen wird sie bloß noch einigermaßen geistesgegenwärtig performt. Happy (André Szymanski) hat da mit seinen über alles hinweg bürstenden verbalen Hochgeschwindigkeitsabsonderungen eine besonders lustige Strategie entwickelt, während Bruno Cathomas den Biff überdeutlich als das ewige Kind spielt, das im Angesicht des Vaters (als Person und Metapher) von hysterischen Stotteranfällen heimgesucht wird.
Die stillen Momente sind die großen in dieser Inszenierung. Etwa wie die großartige Carola Regnier als Willys Gattin nahezu abendfüllend schweigend mit unglaublicher Präsenz im Sessel sitzt und einem dieses Familiengefüge sofort bis ins letzte Detail vergegenwärtigt. Solche Spannung sähe man gern mehr ausgebaut. Dass der Durchschnittszeitgenosse im Allgemeinen und der Handlungsreisende Willy im Besonderen unter vielfältigsten Komplexen leidet, hätte sich hingegen auch so erschlossen – dazu war es nicht notwendig, dass Christina Geiße mit blonder Perücke als seine „Affäre“ in Schlüsselmomenten regelmäßig aus dem Gestrüpp tritt, dümmlich dreinschaut und ihre riesigen nackten Brüste auf dem Kopf des stöhnenden Vertreters herumreiben muss.
CHRISTINE WAHL
Nächste Vorstellungen: 30. 9. und 1. bis 3. 10. sowie 12. bis 15. 10. in der Schaubühne am Lehniner Platz