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Archiv-Artikel

Auf dem Sprung

Traceure begreifen die Großstadt als Abenteuerspielplatz. Wenn sie auf Mauern klettern oder Regenrinnen runterrutschen, nennen sie es Parkour – Sportart oder Jugendbewegung?

VON ANNE HAEMING

Fußabdrücke auf Augenhöhe. Wie eine Ameisenstraße zieht sich eine Banderole aus schwarzen Schuhprofilen über Hauswände, Mauern, eitrig-gelbe Wohngebäude in Berlin-Kreuzberg. Es sind die Spuren von einjähriger Übung. Sie gehen auf die Kappe von Ben, Max, Nicole, Theo und den anderen.

Sie trainieren regelmäßig dort, wo 50 Klingelschilder pro Gebäude wenig sind, Betoncharme überall. „Ghettoarchitektur“, kommentiert Max, aber für sie ist es das Paradies. Sie sind Gymnasiasten, Gebäudereiniger, Bedienungen. Aber wenn sie hier sind oder vor dem Velodrom, dann sind sie Traceure. Das ist Französisch, trace heißt Spur. Und Traceur nennt sich, wer Parkour praktiziert. Hindernislauf in der Stadt, sagen die einen, „die Kunst der Fortbewegung“, sagen die anderen. Ob es eine Sportart ist, daran scheiden sich die Geister.

Es ist kalt, ein später Herbstnachmittag. Ben zieht sich noch eine zweite Fleecejacke über. Er balanciert auf den Fußballen wie eine Bodengymnastin vor ihrer Kür. „Ich hab Schiss.“ Er grinst, ein Witz. Er taxiert die gelbe Wand vor sich, läuft los und springt auf die etwa 1,60 Meter hohe Balustrade. Seine Hände braucht er dafür nicht. Nicole schwingt sich einarmig über die Mauer der Tiefgarageneinfahrt, Max hüpft wie ein Laubfrosch von einer Wand zur nächsten, Theo schwingt sich um die Regenrinne, schimpansengleich. Eine Frau mit gepunktetem Kopftuch schaut ihnen nach, schüttelt den Kopf, ein Rentner ruft: „Sieht gefährlich aus!“ Man kennt sich, grüßt. Mit Schwung hüpft ein kleines Mädchen über die Parkschranke und verschwindet im nächsten Treppenaufgang, ein Katzensprung, „saut de chât“. „Demitour“, „passe mouraille“, „saut de précision“ – „Ich hasse diese französischen Ausdrücke“, sagt Nicole, „wir sind in Deutschland.“ Aber eigentlich brauchen sie keine Worte, sie machen einfach.

Diese Affinität zum Französischen erscheint angesichts der Übermacht nordamerikanischer Jugendkulturen bemerkenswert. Aber David Belle ist nun einmal Franzose und die Lichtgestalt der Bewegung. Er hat Parkour erfunden. Ende der Achtzigerjahre hat er angefangen, von der Straße abzukommen, lieber über Mauern zu springen, als auf dem Gehweg zu gehen wie alle. Er ist erst 33, seine Geschichte schon jetzt ein Mythos. „Sein Vater war Kindersoldat in Vietnam“, sagt Ben. „Der sprang im Dschungel von Baum zu Baum, um sich zu retten.“ Und ein ehrgeiziger Mann, der seinen Sohn gedrillt habe. „Quatsch“, meint Nicole, „der Vater war sein Vorbild, David wollte ihm halt nacheifern.“ Einer, der in der Pariser Banlieue Lisses aufwuchs, sich und seine Anhänger „Yamakasi“ nannte und nun Jugendlichen ohne Perspektive zeigen will, dass sie Hindernisse auch überwinden können. Selbst Managerseminare soll es geben. Lisses ist längst eine Pilgerstätte, Traceure aus aller Welt treffen sich da, Ben und Max wollen im Frühjahr wieder hin. Manchmal klingen sie wie Erleuchtete. „Früher saß ich jeden Nachmittag am Computer und habe gespielt“, sagt Ben. „Dann habe ich ein Video von David Belle gesehen.“ Und Max sagt: „Alle haben immer von ihrem ersten Muskelkater erzählt, ich wollte es nicht glauben, aber es stimmt: Ich konnte eine Woche nicht Treppen steigen.“ Na ja, sagt Theo, es sei schon ein bisschen so wie eine Religion.

Papperlapapp, sagt Sandra Hess. Von diesem ganzen philosophischen Kram hält sie nicht viel. Sandra Hess ist Präsidentin der deutschen Filiale von Pawa, der Parkour Worldwide Association, die David Belle im Januar 2005 gegründet hat. „Wir philosophieren nicht drüber, wir tun’s einfach,“ sagt sie. Effizient, direkt, ohne Schnörkel. Seit gut anderthalb Jahren bestimmt Pawa ihren Alltag, ein Vollzeitjob. Faxe verschicken, telefonieren, Kontakte knüpfen, Workshops organisieren. Zusammen mit ihrem Bruder hat sie gerade angefangen, ein Netzwerk aufzubauen. Bis zum Frühling sollen überall in Deutschland Anlaufstellen entstehen, die mit dem Gütesiegel Pawa versehen sind, wie bei der Stiftung Warentest. Denn Parkour ist eher Disziplin und Technik als Kamikaze – nur das ist im Sinne von David Belle. Sandra Hess findet das wichtig. „Viele Jugendliche sehen die Videos im Internet“, erzählt sie, „die stürzen sich dann drei Meter hohe Mauern runter und bedenken nicht, was passieren kann.“ Insgesamt hat Sandra Hess gut 1.000 deutsche Traceure in ihrer Datenbank, aber es kann auch 400 mehr geben, die sie gar nicht kennt. Sie hofft, dass ab kommendem Jahr über Workshops Geld reinkommt, vielleicht mit Aufträgen von kommunalen Jugendämtern. Momentan arbeitet sie ehrenamtlich, sie finanziert sich mit Kampfsporttraining und Stunts, das Büro teilt sie sich mit ihrem Bruder und ist eigentlich die gemeinsame Wohnung.

Es gibt in der Parkourszene auch solche, mit denen Pawa nichts zu tun haben will, auch Ben und die anderen reden abschätzig über die Kollegen. Die wollen cool sein, mehr nicht. Sie sind vom Glauben abgefallen. Coolness – eigentlich etwas, was zu echten Trendsportarten gehört. Inlineskater waren immerhin mal cool, Footbag-Spieler auch irgendwie stylish, und Skateboarder stehen sowieso lässig auf ihren Brettern. Bei Parkour gibt es nur einen Style: Bequemlichkeit. Und dunkle Klamotten, da sieht man den Schmutz nicht so. „Die Leute sind total uneinheitlich, es gibt nicht einmal eine Musikrichtung“, stellt Sandra Hess fest, es verblüfft sie selbst. Medizinstudenten, Arbeitslose, Schülerinnen, ganz unscheinbare Typen. Für Hess selbst ist es in erster Linie ein Sport. Seit sie drei Jahre alt war, macht sie Kunstturnen und Karate, sie trainiert manchmal fünf Stunden am Tag, jetzt ist sie 30, sie kennt es nicht anders. „Sport ist das, was ich kann“ – Parkour war die logische Konsequenz, eine Zufallsentdeckung in Paris, bei einem Turnier. Sie wohnt in Auerbach, einer 10.000-Einwohner-Gemeinde im Vogtland. Es sei dort schwieriger, Hindernisse zu erkennen, gibt sie zu. Ab und an fährt sie nach Italien oder Frankreich, erst neulich war sie in Berlin, sie kennt das Team von Ben.

„In kleinen Dörfern gibt es doch nur eine Stange und eine Treppe“, für Max wäre Parkour auf dem Land undenkbar. Es dämmert, es ist noch kälter zwischen den Berliner Häuserschluchten. Nicole trägt kupfernen Lidschatten und den Reißverschluss an ihrem dünnen Pulli sommerlich tief. Sie ist älter als die anderen, sie kommt immer aus Spandau zum Training. „Ich bin nicht so wild wie die Jungs“, sagt sie. „Schüler können auch mal zwei Wochen eingegipst sein. Ich muss mir genau überlegen, was ich mache, ich kann nicht ausfallen bei dem Catering-Service, das ist meine Existenz.“ Aber endlich wieder in aller Öffentlichkeit auf Mauern klettern, stundenlang draußen rumtoben, wie früher, das findet sie toll.

Diese kindliche Freude, endlich wieder tun zu dürfen, was man als Erwachsener eigentlich nicht tut, treibt sie alle. Nicole, Ben und die Jungs wollen noch nach neuen Bäumen suchen, Übungsbäumen, „damit hat der Vater von David Belle ja auch angefangen“. Der Weg in den Park macht klar: Sie sind Flaneure des 21. Jahrhunderts, sie schlendern, nicht zielgerichtet, sie sammeln zufällige Hindernisse. Einer schwingt sich um die Laterne, Nicole zieht sich aufs Trafohäuschen, da, eine Tischtennisplatte, sie hocken längs drüber. Zwei Stimmbrüchige gesellen sich dazu, langsam, sie nuckeln lässig an ihren Kippen. „Capoeira, wa?“, ruft der eine rüber. „Nee“, der mit der Kapuze tippt sich an die Stirn. „Das ist Parkour, habe ich auch schon gemacht.“ Man quatscht, Nicole schiebt sich einen Lutscher in den Mund, Theo schwingt sich von Ast zu Ast.

Für ihn ist Parkour eine Lebenseinstellung. Theo ist 17 und der Nachdenkliche aus der Berliner Gruppe. Rote kurze Haare, lange Wimpern, 15 Punkte im Mathe-LK. „Es ist eine ursprüngliche Form der Fortbewegung“, findet er. „Wir eignen uns den öffentlichen Raum wieder an, vorgegebene Straßen, Stadtpläne, das spielt keine Rolle. Wir sehen die Stadt mit anderen Augen.“ Zu 80 Prozent sei es Philosophie, der Rest Körpereinsatz. Er habe gelernt, effizienter durchs Leben zu gehen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Die anderen feixen, dabei sehen sie das so ähnlich. Das mit der Lebenseinstellung unterschreiben die meisten. „Être fort pour être utile“, Ben zitiert noch einen der Sätze, die zum Mythos gehören. „Wir müssen stark sein, um nützlich zu sein.“ Theo nickt: „Wir müssen in Extremsituationen helfen können.“

Spiderman, Superman, Abenteuerjunkies – das ist das Image, das viele Traceure pflegen. Von Dächern springen sie nicht, das betont die Berliner Truppe immer wieder. Sie sind eher die Pfadfinder unter den Superhelden. Und werden trotzdem oft für Einbrecher gehalten, die Polizisten sind meist ratlos. Ben hat vor ein paar Wochen einmal eine Katze vom Baum gerettet, ein Klacks. Fast wie David Belle. Der ist auch Schauspieler, aktuell in einem Kurzfilm, mit Action, der Titel: „Eine bessere Welt“. Der davor war ein Science-Fiction-Thriller. Mit Gangsterbossen, Kidnapping und einer Neutronenbombe. Und David Belle, der die Welt vor ihrem Untergang rettet.