: Wie pleite war die DDR?
MAUERFALL Die Treuhand war nicht schuld, dass die Ostbetriebe nicht zu retten waren. Die Substanz war aufgezehrt, die Währungsunion der Todesstoß
■ ist Wirtschaftskorrespondentin und Autorin im Meinungsressort der taz. Zuletzt erschien von ihr „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Westend 2013).
In der DDR waren Radio-Jerewan-Witze beliebt. Einer lautete: „Frage an den Sender Jerewan: Ist es möglich, in der Wüste den Sozialismus aufzubauen? Antwort: Im Prinzip ja. Fünf Jahre passiert nichts, aber dann wird der Sand knapp.“
So illusionslos wie viele Ostbürger waren auch Teile der SED-Spitze. Am 24. Oktober 1989 bestellte der neue Staatschef Egon Krenz eine „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“ beim Chef der Staatlichen Planungskommission. Sechs Tage später hatte Gerhard Schürer seinen Bericht fertig, der als „Schürer-Papier“ in die Geschichte eingegangen ist.
36 Geheimexemplare
Diese Analyse galt als so brisant, dass nur 36 Exemplare dieser „geheimen Verschlusssache“ verteilt wurden. Zudem sollte das Papier bis zum 31. Dezember 1989 wieder vernichtet werden. Bekanntlich kam es anders: Am 9. November ereignete sich die „Wende“, sodass das Schürer-Papier überlebt hat und bis heute die Diskussion befeuert, ob die DDR konkursreif war oder ob erst die Treuhand und die Westfirmen die lästige Konkurrenz im Osten ruiniert haben, um sich einen weiteren Markt anzueignen.
Für Schürer gab es keinen Zweifel, dass die DDR vor der Pleite stand. Nach seiner Rechnung hatte man im „nichtsozialistischen Ausland“ Schulden von 49 Milliarden Valutamark angehäuft, was etwa 26 Milliarden Dollar entsprach. Da die Zinsen ebenfalls in Valutamark zu bezahlen waren, benötigte man Exporterlöse – doch die DDR konnte technologisch nicht mehr mithalten, sodass es immer schwieriger wurde, Waren im Westen abzusetzen. Ein Teufelskreis.
Für die SED-Führung hatte dieses Grauen einen Namen: Internationaler Währungsfonds. Man hatte genau beobachtet, wie der IWF verfährt, wenn ein Land überschuldet ist. Hilfsmaßnahmen seien „mit der Forderung auf den Verzicht des Staates, in die Wirtschaft einzugreifen, der Reprivatisierung von Unternehmen […] verbunden“, schrieb Schürer warnend. Vom Sozialismus wäre nichts mehr übrig geblieben. Doch die Alternative war genauso unattraktiv: Schürer sah voraus, dass sich der Konkurs nur abwenden ließ, wenn man den Konsum der DDR-Bürger um etwa 25 bis 30 Prozent reduzierte. Ein Volksaufstand war damit abzusehen.
Die Bundesbank hat später nachgerechnet, ob die Zahlen von Schürer stimmen, und ihr Befund war weniger alarmierend: Die DDR sei gar nicht pleite gewesen, denn die Verschuldung beim westlichen Ausland habe nur 19,9 Milliarden Valutamark betragen. Für viele Ostdeutsche belegte dies erneut, dass ihre Betriebe gesund waren – und erst von einer korrupten Treuhand sowie von raffgierigen Westfirmen niedergewalzt wurden.
Es war der Verschleiß
Doch diese Verschwörungstheorie übersieht, dass die Auslandsschulden keineswegs das einzige Problem waren, mit dem die DDR-Wirtschaft zu kämpfen hatte. Es war banaler: Die Substanz war aufgezehrt. Schürer hat die düstere Bilanz aufgelistet: Der Verschleiß betrug in der Industrie 53,8 Prozent, bei den Bauten 67 Prozent, bei Straßen und Bahnen 52,1 Prozent und in der Landwirtschaft 61,3 Prozent. Die Staatssicherheit hatte ihre Späher überall und berichtete unter anderem regelmäßig, wie Landwirte in baufälligen Ställen ums Leben kamen.
Im Rückblick verschiebt sich die Perspektive: Es ist ein Wunder, dass die DDR-Wirtschaft bis 1989 durchgehalten hat und nicht schon früher kollabiert ist. Ein verstörendes Dokument ist das Tagebuch von Hubert Biebl, der im VEB Chemiefaserwerk „Friedrich Engels“ in Premnitz arbeitete. Der Chemiker berichtete von Sulfidieranlagen, die jederzeit explodieren konnten, und von verrosteten Schwefelkohlenstoffkesseln, die das Trinkwasser bedrohten. Doch für Investitionen war kein Geld da. Stattdessen hielt Biebl am 1. Februar 1983 fest, „dass für den Bauhof des Werkes zwei Pferde angeschafft wurden“. Offenbar weil Lastwagen zu teuer waren. Und er empfindet es „als Witz, dass die ersten Fuhren des Gefährtes ausgerechnet dazu dienen, Material zum Bau einer Roboterwerkstatt heranzuschaffen“.
Biebl hat sein Tagebuch 1983/84 noch im Geheimen verfasst, voller Angst, von der Stasi entdeckt zu werden. Wenig später waren die ökonomischen Probleme jedoch bereits so offensichtlich, dass die SED nicht mehr versuchte, die desolate Lage zu beschönigen. 1986 durfte der ostdeutsche Schriftsteller Landolf Scherzer einen Monat lang den ersten SED-Kreissekretär von Bad Salzungen begleiten. „Der Erste“ heißt das Buch, das unzensiert erschien und sich wie eine Realsatire liest.
Flexible Öffnungszeiten
So wurde regelmäßig überprüft, ob die Läden die Öffnungszeiten einhielten. Weil es aber nichts zu verkaufen gab, griffen die Angestellten zur Selbsthilfe. Der Bericht an die SED-Kreisleitung in Bad Salzungen ergab für den 12. November 1986: „Um 12 Uhr hatte das Schuhgeschäft geschlossen, um 12.15 Uhr das Haushaltswarengeschäft und um 16 Uhr der Spielzeugladen. Um 12 Uhr hing vor dem Foto-Optik-Laden ein Schild: „Bis 15 Uhr wegen Warenannahme geschlossen.“ Um 15 Uhr wurde das Schild abgenommen und durch ein neues ersetzt: „Bis 18 Uhr wegen Warenannahme geschlossen.“
Die DDR war 1989 ökonomisch am Ende. Und doch hätte man vielleicht mehr Betriebe sanieren können, wenn es nicht zur Währungsunion gekommen wäre. Sie war eine wirtschaftliche Katastrophe. Über Nacht wurden die DDR-Produkte zu teuer, weil nun eben in D-Mark abgerechnet wurde. Wer in Westmark zahlen sollte, wollte aber auch Westqualität haben und ging folglich zur westdeutschen Konkurrenz. Die ostdeutschen Betriebe standen ohne Kunden da und waren rasch insolvent. Nicht die Treuhand hat also die DDR-Wirtschaft endgültig ruiniert; das hat die Währungsunion schon ganz allein geschafft.
Der Sozialismus funktioniert nicht, wie die real existierende DDR gezeigt hat. Aber das ist kein Triumph für den Kapitalismus, der ebenfalls enden wird. Über den Westen gibt es zwar keine Jerewan-Witze, doch Unbehagen existiert auch dort. Es ist ja logisch: In einer endlichen Welt kann es kein unendliches Wachstum geben. Die Suche nach dem besten Gesellschaftssystem geht weiter. ULRIKE HERRMANN