BRENNPUNKTABENDE : Unwetter über mir
Heute ist wieder mal ein Tag, der einfach nicht meiner ist. Er gehört irgendwem sonst, nur nicht mir. Zwar scheint mittlerweile die Abendsonne durchs Fenster, aber noch nicht mal das hilft. Ich möchte mich die ganze Zeit einfach bloß hinlegen. Stöhnen, jammern, wehklagen, egal in welchem Zimmer. Seit Stunden schon. Was ein welker Tag, es ist kaum zum Aushalten. In der Wohnung oben drüber ist der Busfahrer gerade nach Hause gekommen und brüllt seine Frau an. Sie zanken sich wie die Weltmeister, und wenn sie so weitermachen, fängt es bei ihnen auch bald zu welken an. Man kann jedes ihrer schlimmen Worte deutlich verstehen, sie rieseln durch die Decke zu mir herunter aufs Sofa. Sie nennt ihn ein dumpfbackiges, egozentrisches Soundso, und er sie ein zutiefst niederträchtiges, doofes Soundso.
Ich spanne den Regenschirm auf und versuche, ihr Unwetter an mir abprallen zu lassen. Dicke Tropfen aus dem vierten Stock prasseln auf meinen Schirm. Man kann die eigene Leere nicht mehr hören, so laut ist es oben.
Schalte den Fernseher an. Schon wieder ein Brennpunkt.
Viele Wochen gab es zuletzt Brennpunktabende. Auch in der Wohnung über mir. Busfahrerbrennpunktabende, kaum dass der Typ nach Hause kommt. Mit Schimpfwörtern, die man sich für Notfälle eigentlich aufschreiben sollte.
Jammerspacken. Dumpfnuss. Nicht mehr lange und ich habe diesen Tag überstanden. Nicht mehr lange, dann kommt Evelyn nach Hause. Nicht mehr lange, dann legt sie ihre Jacke über den Stuhl, wirft ihre Mütze ins Regal, öffnet den Kühlschrank, gießt sich ein Glas Milch ein und setzt sich zu mir aufs Sofa. „Schöner Schirm“, wird sie sagen und es ernst meinen, und wenn nichts anderes dazwischenkommt, werden wir einfach so dasitzen, für den Rest des Tages, und warten, bis das Unwetter über unseren Köpfen vorüber ist.
JOCHEN WEEBER