: Eine Stadt kommt unter die Rollen
TOURISMUS Partys unterm Schlafzimmerfenster, Kotze im Hauseingang: Vielen Berlinern sind Touristen ein Graus. Was kann man tun gegen die Auswüchse der Reisefreuden – oder müssen wir uns an die Eigenarten der zahlenden Besucher gewöhnen?
VON CLAUDIUS PRÖSSER
Ein Gespenst geht um in Berlin, und es hat üble Manieren: Es uriniert vor Haustüren, erbricht sich auf die Büsche im Park, zerdeppert Flaschen auf dem Gehweg, grölt durch die Nacht. Tausend Köpfe hat es, und in der Hand eine halb volle Bierflasche. Den Verkehr stört es, Kieze zerstört es. Es ist, na klar, das Gespenst des Tourismus. Aber spukt es auf den Straßen – oder vor allem in unseren Köpfen?
Sicher ist: Die Touristen werden immer mehr – allen Stimmen zum Trotz, die behaupten, Berlin sei auch nur eine ganz normale Metropole, zumal mit Einheimischen, für die das Attribut „zuvorkommend“ nicht erfunden wurde. Die Fakten sprechen für sich: In den letzten 20 Jahren, so das Berlin-Brandenburger Amt für Statistik, hat sich die Zahl der Hotels, Hostels und Pensionen von gut 400 auf knapp 800 fast verdoppelt, die Bettenzahl verdreifachte sich sogar von 43.000 auf 133.000. Und zählte man 1994 noch 3,1 Millionen Gäste, die 7,5 Millionen Nächte in Berliner Betten verbrachten, waren es 2013 bereits 11,3 Millionen Gäste und 26,9 Millionen Übernachtungen.
Dabei machen diese zahlenden Gäste nur einen kleinen Teil der Berlinbesucher aus. Ebenso viele kommen bei Freunden oder Familie unter, und der Löwenanteil – rund drei Viertel – bleibt nur für den Tag. Rechnet man alle zusammen, heißt das: Jeden Tag bevölkert durchschnittlich eine halbe Million Touristen die Stadt.
Durchs Raster fallen auch die boomenden Onlinezimmervermittlungen. Über den größten Player, das 2008 in Kalifornien gegründete Airbnb, werden derzeit rund 13.000 Zimmer oder Wohnungen in Berlin angeboten. Darunter dürften auch kommerzielle Ferienwohnungen sein, für die künftig das sogenannte Zweckentfremdungsverbot gilt. Die meisten Angebote kommen aber laut Airbnb von Berlinern, die überschüssigen Raum an Besucher untervermieten. Selbst Kieze, die in keinem Reiseführer stehen, werden so touristisch erschlossen. Nie zuvor war es so einfach, ein paar Tage billig Spaß in Berlin zu haben.
Die Erkenntnis, dass dieser Spaß mit Krach und üblen Gerüchen verbunden sein kann, reift in Friedrichshain-Kreuzberg schon seit einigen Jahren – spätestens seit der erhitzten Debatte über nächtliche Feiern auf der Admiralbrücke im Jahr 2009. Es folgten Podiumsdiskussionen und Schmäh-Sticker („Berlin doesn’t love you“). Die grüne Bürgermeisterin Monika Herrmann erklärte schließlich vor Kurzem im Interview mit dem Tagesspiegel, sie habe „den Eindruck, dass mancher Besuch meint, er sei in einer Art Disneyland“ und die Einheimischen seien „so was wie Statisten“. Man könne im Bezirk wegen des Lärms nicht mehr bei offenem Fenster schlafen. „Warum“, so Herrmann, „haben die Ziehkoffer der Hostelbesucher keine Gummirollen?“
Was tun? Kann man überhaupt etwas tun? Ein bisschen schon, wenn man Peter Beckers (SPD) folgt, Ordnungsstadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg. Für ihn ist der Fall Admiralbrücke eine Erfolgsgeschichte – dank einer 2010 begonnenen Vor-Ort-Mediation, vor allem aber dank der Polizei, die in der Sommersaison jeden Abend eine Streife vorbeischickt, um die feiernden Massen aufzuklären und zu zerstreuen, ganz repressionsfrei. „Die sind nett zu den Leuten“, sagt Beckers, „die wissen, wie das geht.“
Der Stadtrat hat eine Theorie: Dort, wo die soziale Umstrukturierung der Kieze schon vollzogen sei – in der Bergmannstraße etwa –, gebe es kaum Beschwerden. Im Wrangelkiez dagegen oder an der Revaler in Richtung Ostkreuz fühlten sich viele Bewohner genervt und bedroht …
Denn „im Gegensatz zu früher hat jeder, der dort wegzieht, deutlich mehr Miete zu zahlen“. Also blieben die Menschen und haderten mit Lärm und Trubel.
Zwar gibt es einen vom Berliner Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) organisierten „runden Tisch Tourismus“, der unter Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters regelmäßig im Roten Rathaus tagt. Hier könnte man über solche Probleme sprechen – aber der Tisch ist ein exklusives Landesgremium. „Die Bezirke sind da lediglich Zaungäste“, moniert Beckers. Daneben gab es eine Zeit lang Fördermittel für das Projekt „lokal.leben“, mit dem das Bezirksamt versuchte, Anwohner und lokale Gruppen mit Gewerbetreibenden und der Immobilienwirtschaft ins Gespräch zu bringen. Aber bereits seit Sommer ist dafür kein Geld mehr da.
Immerhin: In diesem Zusammenhang wurde eine Bestandsaufnahme der Kiezstrukturen gemacht, auf deren Basis man nun auch planungsrechtlich eingreifen kann – etwa indem man die Neuansiedlung von Gastronomen in bestimmten Straßen untersagt. Beckers grüner Kollege Hans Panhoff setzte das als Baustadtrat im September in die Tat um. Die Umwandlung einer Ladenfläche in der Graefestraße in ein Restaurant genehmigte er nicht, weil das „die typische Berliner Mischung“ gefährde. „Wir wollen verhindern, dass man in jedem Haus zwar ein Bier oder einen Cocktail, aber keinen Apfel mehr kaufen kann“, so Panhoff damals zum RBB.
Auch über den Tellerrand will Kreuzberg schauen, nach Barcelona (siehe Text rechts) oder Paris. Zusammen mit Visitberlin – Berlins obersten Tourismuswerbern –, der Clubcommission, vielleicht auch der IHK will sich der Bezirk um eine Projektförderung aus EU-Mitteln bemühen, sagt Beckers. Es gehe darum zu beobachten, wie andere Länder und Städte mit den Herausforderungen durch stark wachsenden Tourismus umgehen. „European Best Practices zur Reduzierung von Nutzungskonflikten“, nennt Beckers das.
Wie die Schinkenstraße auf Mallorca
Dass Friedrichshain-Kreuzberg am stärksten gebeutelt ist, sieht auch Burkhard Kieker so, der Chef von Visitberlin. Die Simon-Dach-Straße erinnere ihn schon ein bisschen an die „Schinkenstraße auf Mallorca“. Da seien Fehler bei der Genehmigungspraxis gemacht worden. Im Sinne von Visitberlin sei das nicht, genauso wenig wie organisierte Pub Crawls oder Bierbikes. Für solche „Randerscheinungen“ gebe es keine Unterstützung. Andererseits findet Kieker es „schwierig, alles auf die Gäste zu schieben“. Man müsse da vorsichtig sein, „wir wollen ja das Tolerante, Weltoffene beibehalten“. Die Rollkoffer-Sprüche der Bürgermeisterin findet er „unter aller Kanone“. Man müsse sich darüber im Klaren sein, „dass Kreuzberg kein Kuhdorf ist, sondern weltweit gehört wird. Das wurde gleich in El País zitiert!“
Aber auch im Senat ist das Thema angekommen. „Konzept zum Akzeptanzerhalt des Tourismus“ heißt der Plan, die Senatsverwaltung für Wirtschaft hat ihn Ende August dem Abgeordnetenhaus vorgelegt. „Geringe negativ empfundene Beeinträchtigungen der Wohnbevölkerung“ seien zu bewältigen, heißt es in dem Papier. Darum soll sich unter anderem die „Geschäftsstelle Akzeptanzerhaltung“ bei Visitberlin kümmern, mit einem Jahresbudget von 300.000 Euro.
Laut Konzept will man Touristenströme entzerren, indem man dezentrale Ziele besser vermarktet. Man will das Gespräch mit Gastronomen suchen, um Lärm zu verringern, will Leitsysteme installieren, also die Reisebusse besser durch die Innenstadt lotsen – und stark genutzte Straßen und Plätze häufiger reinigen. Außerdem soll kommuniziert werden, wie bedeutsam der Tourismus für Berlins Wirtschaft ist. Immerhin sorgen die Gäste jedes Jahr für 10 Milliarden Euro Umsatz.
Auf diesen Aspekt legt auch Burkhard Kieker großen Wert. Berlin sei mitnichten eine Billig-Destination, auch wenn Hostels und Low-cost-Flüge den Boom befördert hätten: „In der Maschine aus London sitzt auch der Banker aus der City, der überrascht festgestellt hat, dass man hier die Opernkarte nicht ein Jahr im Voraus buchen muss.“ Wenn Berlin bald 27 Hotels mit 5 Sternen habe, liege das ja nicht an den Ryanair-Touristen. Und neue Besuchergruppen stünden schon vor der Tür: „China hat eine extrem schnell wachsende Mittelschicht, die sind travel hungry.“
Die Prager geben nur ihre Altstadt an Touristen ab
Berlin und die Berliner müssen sich also mit dem Massentourismus arrangieren. Und die Touristen müssen weiterhin damit leben, dass die Berliner ihnen – mal mehr, meist weniger verdient – die kalte Schulter zeigen. Das ist eben so, weiß der Tourismusforscher Hasso Spode, der das Willy-Scharnow-Archiv an der TU Berlin leitet: „Seit es Touristen gibt, gibt es auch Antitourismus, Touristenbashing.“
Der Nationalökonom Adam Smith habe im 18. Jahrhundert als erster nachweislich den Begriff „Tourismus“ verwendet – und zwar als Schimpfwort, weiß Spode. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Norderney das erste Nordseebad entstanden sei, hätten die Fischer und Piraten Steine aufs Kurhaus geworfen – bis sie lernten, dass man mit dem Vermieten weiterkommt. Und in den 1970er Jahren sei in Wintersportgemeinden der Schweiz und Österreichs die Rede vom „Aufstand der Bereisten“ gewesen. Dort habe man das Phänomen sogar wissenschaftlich untersucht: „Der Fremdenverkehr spaltete die Gemeinden in Gewinner und Verlierer.“
Berlin, glaubt der Tourismusexperte, habe durch seine dezentrale Struktur ein ganz spezifisches Problem: Die Touristen seien sozusagen überall unterwegs und kämen den Einwohnern ins Gehege. Im Gegensatz dazu hätten etwa die Prager ihre Altstadt an die Touristen abgegeben, sonst blieben sie aber weitgehend unter sich.
„50 Prozent mehr“ Touristen könne Berlin noch wegstecken, glaubt Spode. Trotz aller wissenschaftlichen Distanz findet aber auch er, dass manche Verhaltensweisen sich einfach nicht gehören: „Sollen die doch zum Kotzen nach Lloret de Mar fahren.“