: Wilde Marie
In Filmen der Vierziger spielte sie die „typische Barbarin“, in der Nachkriegszeit bediente sie als Schlagersängerin deutsche Sehnsüchte nach heiler Welt: Leila Negra
VON FRANK SANDMANN
Zehn Jahre ist es her, dass ich diese Schlager-CD geschenkt bekam. In den Neunzigern nichts Ungewöhnliches. Damals bekam man dauernd so Sachen geschenkt. Neben Marika Rökk („Iiich chabe iimmär nurr gedaaanzt“) oder Ilse Werner („Da pfeif ich drauf“) gab es da ein Lied, das mir den Atem stocken ließ. „Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist“. Bitte? Weil du ein was bist? Leila Negra hieß die Sängerin mit dieser unglaublich piepsigen Stimme. Aha. „Leila, die Schwarze“. Geht es vielleicht noch kruder?
Die Sonne brennt, die Luft steht bei dreißig Grad. Leila Negra steht unter einem Baum – in einer sehr gemütlichen, gepflegten Straße in Hamburg-Eppendorf im Sommer 2007. Sie ist unerwartet klein und unerwartet fröhlich. „Ich habe Sie hier draußen erwartet, wir gehen in das Café da vorn“ sagt sie, die so gar nicht aussehen will wie eine 77-Jährige. Wir nehmen auf einer Sitzgruppe im Stil der Fünfzigerjahre Platz. „Was darf ich denn dem Herren bestellen?“ Soso. Frau Negra lässt sich nicht hofieren. Ich nehme Milchkaffee und ahne, dass nun sehr lustige Momente vor mir liegen.
Aber wie rede ich sie eigentlich an? Leila Negra oder doch lieber Marie Nejar? „Ach, die Leute sagen das immer so, wie es gerade passt. Mal so, mal so. Lieber aber Marie. Der Name ist ja auch gerade so modern.“ Den Namen Leila Negra findet sie albern. „Den hat Michael Jary damals so nebenbei erfunden.“ Michael Jary. Der Mann, der auch für Zarah Leander und Evelyn Künneke die bekanntesten Hits geschrieben hat. Bevor aber Leila Negra erfunden wurde, gab es Marie Nejar, die in Mülheim an der Ruhr am 20. März 1930 zur Welt kam. Sie war ein „Unfall“. Ihre Mutter Cecilie war selbst ein sogenanntes Mischlingskind, denn sie stammte aus der Ehe einer Deutschen mit einem Kreolen aus Martinique. Zur damaligen Zeit ein Skandal. Maries Mutter hatte eher aus Versehen die „Familientradition“ fortgesetzt. In einem alkoholisierten Anfall von Gefühlsduselei. Nach einem Auftritt als Musikerin in einer Hamburger Kneipe hatte sie ein Techtelmechtel mit einem Matrosen aus Ghana. Marie wurde heimlich geboren und sollte zur Adoption freigegeben werden.
Durch Zufall erfuhr ihre resolute Großmutter von ihrer Enkelin und holte sie zu sich nach Hamburg, wo sie fortan als Mutter einsprang. Dass ihre Mutter sie nicht wollte, wusste Marie schon sehr früh. Sich damit abzufinden fiel ihr relativ leicht, sagt sie heute. „Ich mochte sie nicht, sie mochte mich nicht. Das war immer so. Wenn mich jemand später voller Ekel angeguckt hat, hab ich auch immer gedacht. Pöh. Du magst mich nicht. Ich mag dich auch nicht. Damit war für mich der Fall erledigt.“ Dass sie von anderen diskriminiert und ausgegrenzt wurde, war für das kleine Mädchen mit der breiten Nase Alltag. Aber nicht nur das. Sie wuchs genau in die Zeit hinein, in der der Naziterror sein Geschwür auf Deutschland auswachsen ließ. Als die Rassengesetze 1935 verabschiedet wurden, war Marie fünf Jahre alt. Mit zehn war sie ein „richtiger Hitlerfan“ und wollte unbedingt zum BDM, wie alle zehnjährigen Mädchen. Sie hatte eine Einberufung bekommen und freute sich schon sehr lange darauf, dabei sein zu dürfen. Hatte auch gehört, dass man dort viel Sport machte. „Als ich dahin ging, guckte mich der Mann an und sagte: ‚Wer hat dich denn herbestellt? Hau bloß ganz schnell ab.‘ Das war die größte Demütigung meines Lebens.“
Offenbar hatte niemand erwartet, dass Marie Nejar keine sogenannte Reinrassige sein würde. Sie selbst fühlte sich ganz „normal weiß“. Und obwohl sie als „Rassenschande“ galt, hat man sie in Ruhe gelassen. „Wir hatten ja nichts. Bei uns war nichts zu holen. Allerdings: Eine höhere Schule kam für mich auch nicht in Frage“, sagt Marie Nejar heute.
Dass man sie schließlich noch als Zwangsarbeiterin einsetzte, habe sie nicht als schlimm empfunden. Sie habe das Gefühl gehabt, gebraucht zu werden. In der Keksfabrik hat sie sich noch nicht mal getraut, etwas mitgehen zu lassen, obwohl der Alltag von Hunger geprägt war. Ihre Großmutter hatte sie streng erzogen. Sie hat ihr auch immer wieder die Nase zusammengedrückt, damit sie nicht so sehr breit wurde. Sie sollte ein anständiges, unauffälliges Mädchen sein. Marie war so anständig, dass selbst ihre Chefin in der Fabrik zu ihr sagte: „Kind, du bist ja zu dumm zum Klauen.“ Da sich all ihre Kollegen etwas in die Taschen gesteckt hatten, habe sie quasi als Ausgleich zu Weihnachten eine große Tüte Kekse geschenkt bekommen.
Dem proletarisch-anrüchigen Umfeld in der Hafenstadt Hamburg mit den vielen schwarzen Arbeitern und Matrosen hat Marie wohl ihr Überleben zu verdanken. Sie war in ihrem Kiez nichts Besonderes. In jeder anderen Stadt Deutschlands wäre das vielleicht anders gewesen.
Ihre erste Begegnung mit dem Showbusiness machte Nejar 1942 als Zehnjährige in dem Film „Münchhausen“ mit Hans Albers in der Titelrolle. In diesem Film war sie Statistin und durfte als schwarze Dienerin mit einem Palmenblatt wedeln. „Entschuldigen Sie. Damals war ich ein Kind. Ich fand das toll, und außerdem hatte ich zwei Wochen schulfrei. Mit Unterschrift und auf Anweisung von Herrn Goebbels.“ Immer wieder wurde sie als Statistin gebucht. So auch in dem Film mit Heinz Rühmann in „Quax in Afrika“ von 1944. Da bekam der Bruchpilot, der als „weißer Gott“ betrachtet wurde, von dem Stammeshäuptling seine Tochter geschenkt, die „Banani“ hieß. „Ist das nicht ein alberner Name?“, lacht Marie Nejar und hält dabei ihr Wasserglas fest in der kräftigen Hand.
Nach dem Krieg arbeitete Marie Nejar im Winter in Hamburg in der „Er&Sie-Bar“ und im Sommer am Timmendorfer Strand als Zigarettenverkäuferin. Das wurde der Startschuss für ihre Karriere als Sängerin. In dem Vergnügungslokal, in dem sie arbeitete, machte die Tanzkapelle für den Abend einen Soundcheck. Man wollte die Mikrofone testen, und Marie sollte mal kurz etwas singen. Das tat sie, denn sie kannte alle Schlager, die zu dieser Zeit modern waren. Als am Abend die Gäste kamen, fragten alle nach der „tollen Sängerin“, die sie am Strand gehört hatten.
Der Ton war bei dem Test aus Versehen nach draußen geleitet worden, und von da an sollte Marie jeden Abend singen. „Wenn ich damit fertig war, habe ich weiter Zigaretten verkauft. Einmal kam sogar Charlie Chaplin zu mir und hat gesagt, dass meine Stimme so wonderful wäre. Darüber habe ich mich gefreut, aber ich habe erst später erfahren, wer der gut aussehende Mann war.“
Mit dieser fast schon naiven Gelassenheit ließ sich Marie auf das ein, was sie ab 1951 zu einem bundesdeutschen Star werden ließ. Sie hatte in Wien ihr erstes Engagement in der Revue „Casanova Express“, wo sie die Lieder „Zwölf kleine Negerlein“ und ihren bekanntesten Hit, „Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist“, sang. Von da an trat sie mit vielen Stars dieser Zeit auf, mit Conny Froboess, Lale Andersen oder Ilse Werner etwa. Sie war exotisch, weil sie als Schwarze so perfektes Hochdeutsch sang, während sich die Deutschen mühten, ihrem Gesang durch einen südländisch klingenden Akzent etwas Internationales zu geben. Dazu kam, dass sie so klein und niedlich war. „Ich war schon Anfang zwanzig, und ich musste auf fünfzehn oder siebzehn machen.“ Sie hielt einen Teddybär im Arm und trug Latzhosen.
So auch, als sie 1952 mit Peter Alexander das Duett „Die süßesten Früchte“ sang. „Er war sehr nett und hat mir immer geholfen. Später musste ich mal eine Märchenplatte sprechen. Die anderen Burgschauspieler konnten das viel besser als ich.“ Hilde, Alexanders Frau, hatte ihr am Tag vor der Aufnahme noch bis spät in die Nacht Sprechunterricht gegeben. „Dann hat alles wie am Schnürchen geklappt.“
Eine große Sängerin sei sie jedoch nie gewesen. „Nein. Ich wäre viel lieber Tänzerin geworden.“ Stattdessen sang sie dieses Lied von den traurigen Negerleinaugen. Ob ihr der Text nicht heute etwas seltsam vorkomme, frage ich. „Damals hatte das seinen Sinn. Wenn ich damit aufgetreten bin, kamen anschließend die Mütter, die die sogenannten Besatzungskinder hatten. Denen habe ich aus der Seele gesprochen.“ In den Fünfzigerjahren hatten manche deutsche Frauen Kinder von schwarzen Besatzern. Das Unglück dieser Zeit wurde dann noch drastischer, wenn die tot geglaubten Männer plötzlich wieder vor der Tür standen. Ihr Lied war eine Art Integrationshilfe, findet sie.
Das Einzige, was ihr dann doch an nicht gefiel an dem Lied, war die Textpassage „Wenn die weißen Kinder mit uns nicht spielen wollten“: „Das kannte ich ja selbst gar nicht.“ Im Gegenteil. Sie war ja mit den zwei Schwestern Otti und Bärbel bis zu deren Tod gut befreundet. Die hatten sich nie für ihre Hautfarbe interessiert.
Ihre Karriere als Sängerin hat sie 1956 mit einem letzten großen Auftritt am Silvesterabend beendet. Der Grund dafür findet sich in ihrer Autobiografie auf Seite 116. Dort gibt es diesen vielsagenden Tippfehler. Es ist die Rede von der „glamourösen Schweinwelt“. Marie Nejar lacht, als ich sie auf diesen Fehler hinweise. „Ja, da ist was dran. Ich dachte damals, dass es ganz toll wäre, mit lauter Musikern und Sängern aufzutreten. Wir wollten doch alle das Gleiche, habe ich gedacht.“ Weit gefehlt! Es war ein Hauen und Stechen voll Neiderei und Missgunst. Nejar wurde älter und entwuchs dem Kindchenschema, und sie hatte auch keine Lust mehr, so aufzutreten. „Es war die einsamste Zeit meines Lebens.“ Also hörte sie auf.
So hat sie dann fast 25 Jahre als Krankenschwester gearbeitet und ihre Erfahrungen als „normale Schwarze“ in Deutschland gemacht, denn bald schon kannte sie kaum noch jemand. „Ich stieg in einen Bus. Da saßen zwei Frauen, und eine sagte: ‚Guck mal, da läuft unsere Rente.‘ Ich sagte: ‚Ich gehe für Ihre Rente als Krankenschwester arbeiten.“ – „Ach, sie sprechen ja Deutsch!“ – „Ja. Und hier sind noch ein paar mehr, die Deutsch sprechen, also passen sie auf, was sie sagen.“
Aus Marie Nejars Sicht hat sich die Situation heute nicht wesentlich verändert. Sie höre immer wieder, dass Ausländer und Schwarze den Deutschen die Arbeit wegnehmen würden. Vor ein paar Jahren habe sie erlebt, dass ein paar Jugendliche ihr ein „Sieg Heil“ zuriefen. Das nahm sie nicht einfach hin und sagte: „Meine Herren. Das kann ich viel besser. Ich bin damit aufgewachsen.“ Dann wurde es still, und die Neonazis rannten weg.
Nie habe sie es bereut, mit dem Showbusiness aufgehört zu haben, sagt sie. Es sei ihr schnell klar gewesen, dass alles doch sehr oberflächlich war. Heute würde sie so eine Karriere nicht mehr machen wollen. „Dann müsste ich ja vielleicht bei Dieter Bohlen vorsingen. Um Gottes willen! Wie der mit den Leuten umgeht! Aber Mark Medlock, der Gewinner der letzten DSDS - Staffel, hat eine tolle Stimme. Nur reden darf er nicht. Das ist ja unmöglich!“
Jetzt steht Marie Nejar wieder in der Öffentlichkeit, und ein bisschen bereut sie es, dass sie sich zum Buchschreiben hinreißen ließ. „Ich habe ja gar keine Ruhe im Moment. Eigentlich ist mein Leben doch jetzt sowieso erledigt. Ich habe mein Auskommen, meine Rente und habe alles gehabt, was ich wollte.“
Nur eines nicht. Den Mann fürs Leben. Versuche in dieser Hinsicht waren gescheitert. Sie war mit zwei weißen Männern liiert, aber deren Eltern waren dagegen. Dann hatte sie einen Freund aus Ghana. „Wenn der sagte, er kommt um sieben Uhr, durfte ich warten. Dann kam er erst um 3 Uhr nachts, und er fand das normal.“ Nicht mit ihr! Sie hat diese Beziehung beendet, denn so sah sie ihre Rolle als deutsche Frau nicht. Ihr Freund warf ihr dann vor, sie sei „weißer als weiß“. „Ja“, sagt sie heute, „ich denke, das bin ich.“
FRANK SANDMANN, Jahrgang 1966, Journalist, Schauspieler und Sänger, lebt in Berlin Marie Nejars Buch „Mach nicht so traurige Augen, weil du ein Negerlein bist. Meine Jugend im Dritten Reich“ ist bei Rowohlt erschienen