: Udo Bergers Nazis
KRIEGSSPIEL Diesmal soll Deutschland gewinnen: Unklar ist, ob Roberto Bolaňo seinen frühen Roman „Das Dritte Reich“ zur Publikation vorgesehen hatte. Egal. Zum Glück kann man ihn nun lesen
Udo Berger ficht den Zweiten Weltkrieg ein zweites Mal aus. Diesmal soll Deutschland gewinnen. Das Zeug zum Siegen hat der junge Mann aus Stuttgart. Bei Wettkämpfen hat er sich bewährt, noch aus aussichtsloser Lage heraus hat er Strategiespiele wie „Fortress Europe“ für sich entschieden, zudem steht er am Anfang einer Karriere als Autor für einschlägige Fachperiodika. Da ihn die Redakteure auf seine „schriftstellerische Unbeholfenheit“ hingewiesen haben, übt er das Schreiben in einem Tagebuch. Dass er mit seiner Freundin Ingeborg Ferien an der Costa Brava macht, hält ihn nicht davon ab, sich ins Hotelzimmer zurückzuziehen und sich dem Spiel und dem Schreiben zu widmen.
Udo Berger ist die Hauptfigur in einem frühen Roman von Roberto Bolaño. Der trägt den Titel des Kriegsspiels, um das es geht: „Das Dritte Reich“. Bergers Tagebuch, begonnen am 20. August, beendet am 20. Oktober, bildet diesen Roman. Es ist nicht ganz klar, ob Bolaño den 1989 fertiggestellten Text je für eine Veröffentlichung vorgesehen hatte. Denn anders als der andere große, nach seinem frühen Tod im Jahr 2003 publizierte Roman, „2666“, ist „Das Dritte Reich“ weder fragmentarisch noch unfertig, es ist ein in sich runder, abgeschlossener Text, so dass nicht nachvollziehbar ist, was einer Veröffentlichung zu Lebzeiten des chilenischen Autors im Wege stand, außer eben dessen Wille.
Was freilich ein großer Verlust für alle Bolaño-Aficionados gewesen wäre. Denn in diesem frühen Text klingen viele Motive an, die diesen so eigenen, reichen literarischen Kosmos ausmachen, und sie werden so souverän durchgespielt wie in den späteren Arbeiten auch: Es gibt eine Menge latentes Unheil, das, wo es sich konkretisiert, seltsam trivial bleibt, es gibt Figuren, die verschwinden und die zu suchen sich die übrigen Figuren zur Aufgabe machen, obskure Schriftsteller wie Karl Bröger oder Gerrit Engelke werden erwähnt, von denen man glaubt, sie seien erfunden, bis man sie googelt (wie hat Bolaño nur von ihrer Existenz wissen können, bevor es das Internet gab?), ein Exilant aus Lateinamerika mit dem Spitznamen Der Verbrannte (sein Körper ist von Brandnarben entstellt) spielt eine Rolle, und schließlich gibt es den Deutschen, der sich auf merkwürdig unschuldige Art zur Aufgabe macht, den Nazis lange nach deren Ableben zum Sieg zu verhelfen. Ambivalente deutsche Figuren haben es Bolaño angetan, mit ihnen kann er sein Lieblingssujet, die Latenz des Bösen, besonders gut verhandeln.
Der Autor nimmt den Tagebuchcharakter des Romans ernst, insofern er die stilistischen Unsicherheiten des Protagonisten stehen lässt; er schwankt zwischen sprachlicher Aufgeblasenheit und Understatement. Dem Protagonisten selbst fällt auf, dass seine scheinbar so nüchterne, sachliche Ausdrucksweise Tücken birgt. Als er einmal in der Öffentlichkeit seiner Freundin Details des Kriegsspiels erläutert, wird ihm klar, „dass sich Ingeborg meinetwegen schämte, wegen der Vokabeln, die ich von mir gegeben hatte (Infanterieverbände, Panzerverbände, Kampfgeschwader der Luftwaffe, der Marine, Präventivschlag gegen Norwegen, Möglichkeiten für einen Angriff auf die Sowjetunion im Winter 1939, Chancen für eine vollständige Niederschlagung Frankreichs im Frühjahr 1940), und mir war, als täte sich vor meinen Füßen ein Abgrund auf.“
„Das Dritte Reich“ lotet diesen Abgrund aus, ohne den Lesern mit klaren Deutungen oder moralischen Urteilen vor ihm zu schützen. Am Ende, Udo Bergers Freundin ist längst abgereist, alles Geld ausgegeben, der Job in Stuttgart gekündigt, bleibt dem Helden nichts anderes übrig, als zu stammeln: Er sei „kein Nazi“, ihn treffe „keine Schuld“.
CRISTINA NORD
■ Roberto Bolaño: „Das Dritte Reich“. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Hanser, München 2011, 320 Seiten, 21,90 Euro