: Die Fremden
LEHRSTUNDE Was sie essen, wer sie sind, warum sie sind, was sie sind – es wird viel über Fremde gesprochen in diesen Tagen. Schon 1940 hat man darüber gehaltvolle Gespräche geführt
VON KARL VALENTIN
Professor: Wir haben also in der letzten Unterrichtsstunde über die Filzpantoffel gesprochen und behandeln heute das Hemd. Wer von euch weiß zufällig einen Reim auf „Hemd“?
Valentin: Auf Hemd reimt sich „fremd“.
Professor: Sehr gut! Und wie heißt die Mehrzahl von „fremd“?
Valentin: Die Fremden.
Professor: Jawohl, die Fremden. – Und aus was bestehen die Fremden?
Valentin: Aus „fremd“ und aus „den“.
Professor: Sehr gut! – – und was ist ein Fremder?
Valentin: Fleisch, Gemüse, Mehlspeisen – Obst usw.
Professor: Nein! – Nein! – Nicht was er isst, sondern was er tut.
Valentin: Er reist ab!
Professor: Sehr richtig! Er kommt aber auch an – und ist dann ein Fremder. – Bleibt er dann für immer ein Fremder?
Valentin: Nein! – Ein Fremder bleibt nicht immer ein Fremder.
Professor: Wieso?
Valentin: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.
Professor: Das ist nicht unrichtig. – Und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd?
Valentin: Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar so lange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt – dann ist er kein Fremder mehr.
Professor: Ausgezeichnet! – Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, ist das dann auch ein Fremder? Oder ist es ein Nichtmehrfremder?
Valentin: Jawohl, das ist ein Nichtmehrfremder, aber es kann diesem Nichtmehrfremden – unbewusst – doch noch einiges fremd sein.
Professor: Was zum Beispiel?
Valentin: Den meisten Münchnern zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd – hingegen ihnen die meisten Museen fremd sind.
Professor: Sehr richtig! – Dann kann also der Einheimische in seiner eigenen Vaterstadt zugleich ein Fremder sein. Es gibt aber auch Fremde unter Fremden! Wie verstehen Sie das?
Valentin: Fremde unter Fremden sind – so wie ich mir das vorstelle –, wenn Fremde mit dem Zug über eine Brücke fahren und ein anderer Eisenbahnzug mit Fremden unter derselben durchfährt, so sind die durchfahrenden Fremden – Fremde unter Fremden, was Sie, Herr Professor wahrscheinlich nicht so schnell begreifen werden.
Professor: Leicht fällt es mir nicht! Aber nun wieder zum Thema. – Und was sind Einheimische?
Valentin: Einheimische sind das Gegenteil von Fremden. Aber dem Einheimischen sind die fremdesten Fremden nicht fremd, – er kennt zwar den Fremden persönlich nicht, merkt aber sofort, dass es sich um einen Fremden handelt, beziehungsweise um Fremde handelt; zumal wenn diese Fremden in einem Fremdenomnibus durch die Stadt fahren.
Professor: Wie ist es nun, wenn ein Fremder von einem Fremden eine Auskunft will?
Valentin: Sehr einfach. – Frägt ein Fremder in einer fremden Stadt einen Fremden um irgendetwas, was ihm fremd ist, so sagt der Fremde zum Fremden: „Das ist mir leider fremd, ich bin nämlich selber fremd.“
Professor: Das Gegenteil von fremd ist bekannt. Ist das klar?
Valentin: Eigentlich ja! Denn, wenn zum Beispiel ein Fremder einen Bekannten hat, so muss ihm dieser Bekannte zuerst fremd gewesen sein, aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd. Wenn aber diese beiden Bekannten zusammen in eine fremde Stadt reisen, so sind diese zwei Bekannten dort für die Einheimischen wieder Fremde geworden. – Sollten sich die beiden Bekannten hundert Jahre in dieser fremden Stadt aufhalten, so sind sie auch dort den Einheimischen nicht mehr fremd.
■ Karl Valentin: „Sämtliche Werke“. Band 4, Piper Verlag, München 1994