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Nominierte 2016

Nominierte 2016: Tobias Burdukat Lieber für etwas sein

Tobias Burdukat will nicht immer nur meckern. In Grimma schafft er mit dem „Dorf der Jugend“ Alternativen.

Auf dem Gelände der Alten Spitzenfabrik schafft Burdukat Freiräume für Jugendkultur, Antirassismus und Antisexismus Bild: Anja Weber

„Wir sind die Neuroleptiker aus Dresden” schallt es von der Bühne, die im Innenhof der Alten Spitzenfabrik aufgebaut ist. Lautes Gitarrengeschrammel folgt. Der gelbe Ziegelbau der Alten Spitzenfabrik liegt direkt am Radweg entlang der Mulde und etwas außerhalb von Grimma.

Unterhalb des alten Fabrikgeländes kann man auf dem Crossover-Festival etwa das Bierbrauen lernen oder sich mit Henna tätowieren lassen. Statt Bratwurst gibt es vegane Sandwichs. Essen und Getränke werden aus dem bunten Schiffscontainer heraus verkauft. Im Gras stehen Stühle um alte Kabelrollen herum. 

Pudding, wie Tobias Burdukat von den meisten seit seiner Schulzeit genannt wird, erzählt von den Anfängen des seit 16 Jahren stattfindenden Crossover Festivals. Es wurde aus Not heraus geboren, weil es nichts für Jugendliche in Grimma und Umgebung gab. Der 33-Jährige weiß, wovon er spricht, er ist in Großbothen, einem Nachbarort von Grimma, aufgewachsen. 

Gezielte Hetze gegen seine Person und die Projekte der jungen Menschen

Heute sind viele Leute zum Festival gekommen. Jugendliche, aber auch einige Familien mit Kindern. Trotzdem sind nicht alle Menschen aus der Umgebung glücklich darüber, was Burdukat hier macht, vor allem nicht darüber, wie er es macht. Er erzählt von Bürgerbewegungen, gegen die er seit einiger Zeit zu kämpfen hat, und über Hetze, die gezielt gegen seine Person und die Projekte, die er mit den jungen Menschen hier macht, gerichtet waren.

Was Burdukat ärgert, ist, dass es sich dabei meist genau um die Leute handelt, die sich nie öffentlich einbringen. „Das ist der Grund, warum ich hier in Grimma in den Stadtrat gegangen bin. Es hat mich genervt, immer nur zu sagen: Das ist Scheiße.“

Das Festival dieses Jahr hätte auf dem Marktplatz von Grimma stattfinden sollen, erzählt Julie aus Berlin, eine der MitorganisatorInnen des alternativen Festes. Die Polizei hätte ihnen jedoch abgeraten. Julie wollte etwas gegen die Nazis in Sachsen unternehmen, sagt sie, und war bei ihrer Suche auf Burdukat und sein Projekt gestoßen.

Vor den zwei Eingängen zum Hof der Spitzenfabrik, auf dem die kleine Bühne und einige Stände stehen, sitzen Jugendliche, auf deren T-Shirts „Security“ steht. Der Eintritt ist heute frei, die jungen Leute passen nur auf, dass es keine Probleme gibt. 

Jugendliche dazu bringen, sich Freiräume zu erobern

Es hat sich einiges zum Positiven hin geändert in den letzten 15 Jahren, erzählt Burdukat. Und das liegt bestimmt auch daran, dass er mit den Jugendlichen regelmäßig Veranstaltungen macht und sie sich so in das kulturelle Leben des Ortes mit einbringen. Ein typisches Problem auf dem Land, erzählt er, sei so: Die engagierten Jugendlichen werden älter und ziehen weg. Bis sich neue Gruppen gebildet haben, dauere das. „In der Zwischenzeit bricht dann viel zu viel weg.“ 

Wie aber bringt man Jugendliche dazu, in Grimma zu bleiben und sich einzubringen? Veranstaltungen ins Leben zu rufen, Freiräume zu erobern? Was kann man in der Jugendarbeit in ländlichen Regionen anders machen, wenn sich diese auf Hausaufgabenhilfe und Handarbeitskurse beschränkt?

Burdukat denkt darüber seit vier Jahren nach – und heraus kam sein Traum vom „Dorf der Jugend“. Das Projekt zielt darauf, dass man im ländlichen Raum Jugendarbeit selbstständig finanzieren kann und nicht mehr an Fördertöpfen hängt. Inzwischen ist aus der Idee eine Gruppe von ungefähr 20 Jugendlichen geworden, die harte Arbeit war erfolgreich. 

Zur Eröffnung kam sogar der Bürgermeister zu Besuch

Durch seine Tätigkeit als Stadt- und Kreisrat – Burdukat ist dort in freien Wählergemeinschaften – hat er einen anderen Zugang zu Verwaltungsstrukturen, was natürlich für sein Projekt hilfreich ist. Seit zwei Jahren versucht er, das Container Café auf dem Areal der Alten Spitzenfabrik zu installieren.

Zur Eröffnung kam sogar der Bürgermeister zu Besuch. Das Container Café soll die erste Einnahmequelle für das Fabrikareal werden, gerade um die Bürokratiekosten (Bauanträge beispielsweise) abzudecken. Am Wochenende kommen, so Burdukat, viele vorbei – wegen des Radwegs entlang der Mulde.

Es sind die Jugendlichen, die im Café hinter dem Tresen stehen und den Gästen das Projekt näherbringen sollen. Inzwischen wären die Jugendlichen in seiner Jugendgruppe so weit, dass sie selbst Workshops für die Jüngeren anbieten können. Wie neulich etwa ein Upcycling-Workshop. Außerdem gibt es regelmäßig Diskussionsrunden zu Themen wie Antirassismus und Antisexismus. 

Die Bürgerbewegung braucht Kontra

Die Bürgerbewegung in Grimma, die rassistische Hetze betrieben hat, so erzählt Burdukat, braucht ein Kontra, auch argumentativ. „Das versuchen wir möglichst auszudiskutieren. Aber auch, warum es im Container Café vegetarisches oder veganes Essen geben soll und kein Fleisch.“ Zusätzlich zum Café und den Workshops betreiben sie momentan auch noch eine Downhill-Strecke im Wald, welche die Jugendlichen selbst instand halten, sowie einen Skatepark und einen Basketballplatz in Grimma.

Außerdem versuchen sie, mit dem Areal der Alten Spitzenfabrik weiterzukommen. Im Jahr 1907 wurde sie in Betrieb genommen und war zu DDR-Zeiten Teil der VEB Plauener Spitze. Möglichst rasch soll der Veranstaltungsraum im Fabrikinnern genutzt werden können, auch um mehr Einnahmen zu erzielen. 

Proberäume sind obendrein geplant und eine Fahrradwerkstatt: für die AsylbewerberInnen der Umgebung, deren einziges Fortbewegungsmittel auf dem Land das Fahrrad ist, für die Radfahrer, die den Radweg nutzen, und für die Jugendlichen. Letztendlich würde Burdukat auch gerne ein Hostel in der Spitzenfabrik unterbringen.

Das Gesamtkonstrukt der Areale bezeichnet Burdukat als „Dorf der Jugend“. Und sagt: „Wo die Jugendlichen auch mal sie selbst sein können und das machen, worauf sie Lust haben.“ Das Areal gehört einem Unternehmer aus Leipzig, der dem Projekt positiv gegenübersteht. Das Projekt möge sich, erklärt Burdukat, von Jugendgeneration zu Jugendgeneration weiter tragen.

Humanistisches Weltbild als Ausgangspunkt

„Meine persönliche Perspektive ist, dass ich mich für das Projekt irgendwann überflüssig gemacht habe.“ Inzwischen sind auch viele Geflüchtete bei den Arbeitseinsätzen, wie bei der Vorbereitung dieses Festivals, dabei. 

Auf die Frage, ob seine Projekte gezielt antirassistischen Charakter haben, antwortet er, dass das gesamte Projekt von einem humanistischen Weltbild ausgehe, in welchem Antirassismusarbeit und Antisexismusarbeit absolut wesentlicher Bestandteil wären. Eigentlich mag er das Wort Anti nicht, erklärt er. „Ich bin lieber für etwas. Für Humanismus. Dann habe ich vom Grundsatz her eigentlich alles abgedeckt.“ 

Der vollbärtige Tobias Burdukat ist vieles: Sozialarbeiter im Jugendhaus der Diakonie, Bassist der Band Angstbreaker, leidenschaftlicher Surfer, Stadtrat und überzeugter Anarchist. Er träumt von einer hierarchiefreien Gesellschaft und von Gleichberechtigung für alle Menschen. Sein Ziel: etwas in Gang zu setzen: „Die Jugendlichen, die hier in dem Projekt mitarbeiten, die ein Gespür für Freiheit und Freiraum bekommen, die leben das in ihrem späteren Leben auch gegebenenfalls so aus und wirken so auch wieder auf andere Menschen ein.“

In der real existierenden Gesellschaft die Freiheit greifbarer machen

Irgendwann habe er sich entschieden, erklärt er, nicht bis zu seinem Lebensende einer Illusion hinterherzurennen, sondern zu versuchen, an der real existierenden Gesellschaft ein Paar kleine Dinge zu verändern, damit für andere Menschen diese Freiheit auch greifbarer wird. „Meine persönliche Freiheit habe ich in den paar Sekunden, wenn ich irgendwo eine Welle in einem Ozean bekomme und dann auf der Welle reiten kann.“

Einige gestylte junge Männer laufen auf dem Fahrradweg am Festival vorbei. Sie schauen neugierig. Einer trägt ein T-Shirt, auf dem „Deutschland“ steht. „Refugees welcome“, brüllt ein angetrunkener Jugendlicher, der unter einem Baum im Schatten sitzt. „We love you“, brüllen jetzt ein Paar andere aus der Gruppe. Die gestylten jungen Männer heben ihre Fäuste und brüllen „A-Anti-Antifaschista“ zurück.

MAREIKE BARMEYER, ist promovierte Soziologin und taz.lab-Redakteurin. Außerdem ist sie Mitglied der Berliner Lesebühne Rakete 2000.